Die Food-Trend-Forscherin Hanni Rützler vom Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main beschreibt und interpretiert, wie sich die Food & Beverage-Branche und die Esskultur wandeln. In jedem ihrer bislang elf veröffentlichten Food Reports wirft sie einen professionellen Rundumblick in die kulinarische Zukunft. Die Schweizer Präsentation des Reports organisierte die internationale Bewegung Soil to Soul am 20. Juni in Wollishofen.
Die weitreichendste Erkenntnis für die Gastronomie ist, dass immer mehr gesnackt wird und dass erfolgreiche Trends immer auch Gegentrends auslösen. Die beiden Megatrends Veganmania und Flexitarier sind für drei Gegentrends verantwortlich: Vegourmets, Real Omnivores und Carneficionados.
Gemüsebasierte Spitzenküche
Sich vegetarisch oder vegan zu ernähren, geht auch ohne Fleischersatzprodukte. Immer mehr Köche, vor allem in der Spitzengastronomie, verzichten bei vielen ihrer Gerichte oder bei kompletten Menüs auf Fleisch, Fisch und klassische Fleischersatzprodukte. Sie kreieren aus Gemüse, Obst, Getreide, Hülsenfrüchten, Pilzen und Kräutern eigenständige Speisen, bei deren Genuss niemand das Tierische vermisst.
Fleischloser, biologischer und nachhaltiger Genuss steht auch bei vielen Foodies und Gourmets, sogenannten Vegourmets, hoch im Kurs. Die tief sitzende Skepsis gegenüber industriell verarbeiteten Lebensmitteln, Halbfertigprodukten und Fertiggerichten wie auch Fleischersatzprodukten spiegelt sich nicht zuletzt in der wachsenden Zahl von Kochbüchern für eine kreative und zugleich alltagstaugliche Gemüseküche wider. Diese hält auch abseits der Topgastronomie in vielen Privat- und Restaurantküchen allmählich Einzug.
Du bist, was du isst!
Soil to Soul ist eine internationale Bewegung, entstanden 2021 in der Schweiz und in Portugal. Auf der Agenda stehen der Erhalt des Bodens, die regenerative Landwirtschaft und eine verantwortungsvolle, gesunde und genussvolle Ernährung. Nach dem Vorbild von Slow Food setzen Initiant Thomas Sterchi und seine Mitstreitenden darauf, dass der Genuss hochwertiger Nahrung der beste Grund ist, sich für bedrohte Güter einzusetzen.
Vom 14. bis 16. September findet das Soil-to-Soul-Symposium im Kulturareal Mühle Tiefenbrunnen mit Masterclasses und Fermentista Market statt.
Real Omnivores – Vielfalt statt Verzicht
Eine variable, nachhaltige und Neuem gegenüber aufgeschlossene Ernährung ist das Leitmotiv dieses Trends. Ökologische Überlegungen und die Sorge um die Gesundheit des Planeten münden dabei nicht in Verzichtsgeboten. Im Gegenteil: Real Omnivores stehen für die Neugier auf die grosse kulinarische Vielfalt, die unsere Welt zu bieten hat, einschliesslich Exoten wie Insekten, Algen und Schnecken. Sie stehen auch für die Aufgeschlossenheit gegenüber Foodtech-Innovationen und Nahrungsmitteln aus Mikroorganismen.
Dieser Trend wird laut Hanni Rützler von der jungen Szene im urbanen Milieu schnell aufgenommen: «Junge Start-ups in den Städten spezialisieren sich auf Exoten wie Insekten oder In-vitro-Fleisch und machen sich damit einen Namen.» In diesem Trend vereinen sich die Suche nach völlig neuen Produkten und die Rückbesinnung auf weitgehend in Vergessenheit geratene Lebensmittel und die Wertschätzung von traditionellen Speisen, in denen Tiere «from nose to tail» und Pflanzen «from leaf to root» verarbeitet werden.
Carneficionados –well raised and done
Fleisch und Fisch waren immer schon Teil der menschlichen Nahrung und werden es bleiben. Sie haben Millionen von klassischen Fleisch- und Fischrezepten der weltweiten Esskulturen geprägt. Das ethische und ökologische Problem des Fleischkonsums wurde erst durch die industrielle Massentierzucht wirklich virulent. Fleischverzicht ist aber nur eine mögliche Antwort, dem Problem zu begegnen. Denn negiert werden dabei sowohl kulturelle als auch evolutionäre Aspekte, etwa, dass der Mensch ein Allesesser ist.
Der Gegentrend zu Plant-based Food bietet Antworten, mit denen das Problem anders gelöst werden kann. An ihm orientieren sich Konsumenten, die Fleisch geniessen wollen, sich jedoch der ethischen, ökologischen sowie der Klimafolgen der Massentierzucht und des viel zu hohen Fleischkonsums bewusst sind. Sie setzen auf Fleisch aus nachhaltiger, qualitätsbewusster, klima- und tierfreundlicher Produktion wie auch auf wertschätzende Verarbeitung. Sie essen Fleisch massvoll.
Die Evolution der Mahlzeiten
Definierte Mahlzeiten lösen sich zugunsten individuell passender Essgelegenheiten auf, die nicht primär an bestimmte Zeiten gebunden sind: Snacks, Minimahlzeiten, Take-away, Lieferdienste, Kochboxen. Die Konsumentinnen und Konsumenten sind im Alltag offen für schnelle Esslösungen mit internationaler Note.
Die Vielfalt an Angeboten fördert die individuelle, dem jeweiligen Lifestyle entsprechende Wahl wie vegan, vegetarisch, flexitarisch und so weiter. Die Transformation von Snacks zur Minimahlzeit führt weg von Knabbergebäck und Schokoriegeln zu hochwertigen, gesünderen Produkten. Minimahlzeiten werden zu Hause und ausser Haus gegessen, oft alleine oder mit situativen Esspartnern. Die Entscheidung, was, wann und wo gegessen wird, erfolgt spontaner und situationsbezogen, in Koordination mit den Lebenspartnern und Kindern sowie Arbeitspartnern.
Die Gastronomie solle wegkommen vom Standarddenken, so Rützler. Denn Gäste bestellten öfter zwei Vorspeisen statt einer Vorspeise und eines Hauptgangs. Manche genössen bloss ein Dessert und ein Getränk. Auch das Teilen von Tapas aus aller Welt sei hoch im Kurs.
Ungebrochener Megatrend
Mehr Lokale mit veganer Küche
Der Klimawandel und die Moralisierung des Essens machen Pflanzen zur neuen Leitsubstanz der Esskultur. Die pflanzenbasierte Ernährung wirkt sich auch auf die Zahl der vegetarischen und veganen Restaurants aus: Sie nimmt überproportional zu.
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Blanca Burri