In der Kindheit von Claudio und Patrick Dietrich begann jeweils in der Zwischensaison eine schöne Zeit. Wenn die Gäste abgereist waren, räumten die Angestellten die Möbel aus der Halle. Es galt, die Parkettböden für die nächste Saison in Schuss zu bringen. Für die Kinder wurde das Haus zum Abenteuerspielplatz. «Wir hatten das Hotel für uns. Wir luden unsere Klassenkollegen ein und spielten Federball, Verstecken und Räuber und Polizist», erinnert sich Patrick Dietrich. Seit 2010 leitet er zusammen mit seinem dreieinhalb Jahre älteren Bruder Claudio das 5-Sterne-Hotel. Sie führen den Betrieb mit Erfolg. Nun haben die Dietrichs die Auszeichnung «Hotelier des Jahres» erhalten. 

«Endlich auch einmal selber kochen»
In ihrer Würdigung begründet die Jury die Auszeichnung mit dem «Mut der Familie Dietrich, das Hotel konsequent in die Zukunft zu führen», dies auf der Grundlage von Geschichte, Tradition, Kultur – und Familie.

Ein Familienhotel war das «Waldhaus» schon in der Kindheit von Claudio und Patrick Dietrich. Zusammen mit ihren drei Geschwistern lebten sie in den ersten Jahren tatsächlich im Hotel. «Dass wir ein eigenes Hallenbad hatten, war toll», sagt Claudio Dietrich. Während der Schulferienzeit besuchten sie zusammen mit den Kindern der Gäste den Kinderclub und spielten mit ihnen. Und natürlich erlebten sie den Betrieb vor und hinter den Kulissen. «Wir durften uns im Hotel frei bewegen, aber es war immer auch klar, dass wir dort, wo Leute arbeiten, nicht stören und nicht durch die Halle rennen durften», erinnert sich Patrick Dietrich.

Die Hotelierfamilie wohnte in einem Zwischengeschoss. Zu essen gab es, was die Mitarbeitenden zu essen bekamen. Ausser in der Zwischensaison. Die Grossmutter kochte dann Klassiker wie etwa Hacktätschli mit Kartoffelstock und Spinat oder bereitete Berliner zu, und das war für Claudio Dietrich etwas Besonderes. «Wir konnten wünschen, was es gibt. Und endlich auch einmal selber kochen.» In der Tat hatte Claudio Dietrich schon als Kind Freude am Kochen, so wie auch seine Kollegen. Bereits im Alter von zehn Jahren kochten sie selbst und luden die Eltern zum Essen ein.

Die Familie führt das Hotel auch auf Direktionsebene. Das macht das Waldhaus speziell.
Claudio Dietrich, Hotel Waldhaus Sils

«Entweder bevorzugt oder benachteiligt»
Sowohl Patrick wie auch Claudio Dietrich absolvierten denn auch zunächst eine Kochlehre. Für beide war allerdings klar, dass sie diese Ausbildung nicht im Betrieb der Eltern machen wollten. «Als Sohn wird man entweder bevorzugt oder benachteiligt», war sich Claudio Dietrich damals sicher. So lernte er dann das Kochhandwerk im nahen Parkhotel Margna in Sils. Er sammelte Erfahrungen in London bei Anton Mosimann und arbeitete in Frankreich, ehe er die Hotelfachschule besuchte.

Patrick Dietrich lernte im Ermitage Wellness- und Spa-Hotel in der Nähe von Gstaad. Anschliessend arbeitete er in mehreren Hotels in der Schweiz, in Deutschland und den USA. Auch er besuchte die Hotelfachschule.

«Es war nicht immer klar, dass wir den Betrieb übernehmen würden», sagt Patrick Dietrich. 2004 habe der Vater angekündigt, dass er in etwa fünf Jahren kürzertreten wolle. Nach Gesprächen innerhalb der Familie kristallisierte sich heraus, dass nur die Brüder an der Leitung des gesamten Betriebs Interesse hatten.

Heute führen die beiden den Betrieb in fünfter Generation weiter. Schwester Carla Lehner-Dietrich ist seit 2008 im Haus tätig und leitet seit 2016 den Spa-Bereich. Cornelia Dietrich, die Frau von Claudio, ist fürs Marketing verantwortlich. Das Haus ist im Besitz eines Familienaktionariats, bestehend aus derzeit 19 Mitgliedern. «Die Familie führt das Hotel auch auf Direktionsebene. Das macht das Waldhaus speziell», sagt Claudio Dietrich.

Und der enge Gästekontakt ist die Visitenkarte des Hauses. Mit 140 Zimmern sei das Hotel recht gross, trotzdem sei die Atmosphäre familiär, so Patrick Dietrich. «Weil unsere Eltern und unser Onkel weiterhin im Hotel präsent sind, schaffen wir es, jeden Gast persönlich zu begrüssen und zu verabschieden und ihn im Restaurant einmal pro Tag zu sehen.»

Orchester spielt Kaffeehaus-Musik
Seit 116 Jahren thront das stattliche Haus auf der Anhöhe bei Sils. Das «Waldhaus» spielt heute die Karte «historisches Hotel» aus. Während der Saison unterhält ein Streichorchester im Salon mit Wiener Kaffeehaus-Musik. Auf den Gängen erinnern mechanische Kommunikationseinrichtungen aus den Anfängen des Betriebs an die Belle Epoque. Im Salon bleu steht ein mechanisches Klavier, das auf Lochkarten gespeicherte Melodien spielt. Einige Zimmer wurden restauriert und zeigen den Originalzustand von 1908, als Urgrossvater Josef Giger das damals neu gebaute Hotel in Betrieb nahm.

«Unser Glück ist das Pech unserer Vorfahren», sagt Claudio Dietrich. In den 50er- und 60er-Jahren sei kaum Geld vorhanden gewesen für Sanierungen. «Heute klopft man uns auf die Schultern, weil in unserem Haus viel historische Bausubstanz erhalten geblieben ist.»

Und nicht zuletzt ist die Lage des Hauses aus Sicht der Brüder speziell. Der Urgrossvater habe zunächst mehrere Standorte im Engadin evaluiert und sich dann für jenen auf dem Felsrücken bei Sils entschieden. «Von hier aus sieht man in alle vier Himmelsrichtungen», sagt Claudio Dietrich.

«Die von der Burg», so habe man hin und wieder in der Kindheit von ihnen geredet – in Anlehnung an die leicht trutzige Anmutung des Hotels auf dem Felsen. Sonst aber sei es für die Klassenkameraden nichts Spezielles gewesen, dass gewissermassen ihr Elternhaus ein Luxushotel war. «Es gab viele in der Klasse, deren Eltern ebenfalls ein Geschäft hatten.» Zuwanderer habe es damals gesetzlich bedingt keine gegeben – nur Saisonniers. Heute leben viele Portugiesen in Sils. «Deshalb haben wir heute überhaupt noch eine Schule, es gibt noch genügend Schulkinder.»

Stammgäste wollten kein Spa
Stattliche 70 Prozent beträgt heute der Stammgästeanteil des Hauses. Einige der Kinder, die früher mit Claudio und Patrick Dietrich im Kinderclub spielten, kehren inzwischen mit ihren eigenen Kindern ins «Waldhaus» zurück.

Und die Brüder haben dem Betrieb inzwischen ihre eigenen Impulse gegeben. Grösstes Projekt bisher: der Bau eines Spa-Bereichs 2016. Für das Unternehmen bedeutete es eine Investition von rund 10 Millionen Franken. «Gewisse Stammgäste sagten uns zwar, dass das ‹Waldhaus› keinen Spa-Bereich brauche. Aus anderen Gästerückmeldungen wurde allerdings klar, dass es im 5-Sterne-Bereich heute nicht nice to have, sondern ein Must ist», sagt Patrick Dietrich. Dass die Investition richtig war, bestätigte sich nicht lange danach. Die Zahl der Buchungen nahm markant zu.

Auch betrieblich setzten die beiden Brüder seither Akzente. Seit vergangenem Sommer ist ein Prämiensystem in Kraft, welches Anreize schafft, über mehrere Jahre im Hotel tätig zu sein. «Aufgrund von Rückmeldungen der Mitarbeitenden wurde uns klar, dass wir ein System brauchen, das auch spannend ist für jene, die nicht schon 20 Jahre im Betrieb sind.» Eine Prämie gebe es daher schon ab der dritten Saison.

Auch war den Brüdern wichtig, die Abteilungsverantwortlichen stärker in Entscheidungen einzubeziehen und damit weniger «patriarchal» zu führen, wie Claudio Dietrich sagt. Am Anfang sei das für sie, «im Sandwich zwischen der Eltern­generation und den Mitarbeitenden», schwierig gewesen. Den Betrieb mehr gemeinschaftlich zu führen, gelinge inzwischen viel besser.

Seit letztem Winter steht auch ein neues Mitarbeitendenhaus zur Verfügung. Das in Modulbauweise erstellte Gebäude aus Holz aus dem Kanton Graubünden bietet den Angestellten 24 Studios. Mittlerweile kann das Hotel etwa 70 Prozent der Mitarbeitenden in eigenen Zimmern, Studios und Wohnungen unterbringen. Ein Teil der Angestellten sind Grenzgänger, ein weiterer Teil pendelt aus der Umgebung zur Arbeit.

Noch ist es zu früh, um abschätzen zu können, ob dereinst jemand aus der Familie in Claudio und Patrick Dietrichs Fussstapfen treten wird. Fest steht: Die sechste Generation wächst sehr zahlreich heran, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Freude haben wird, den Betrieb weiterzuführen, ist gross. Und ebenfalls klar ist: Dass jemand aus der nächsten Generation die operative Leitung übernehmen sollte, darüber sind sich die Mitglieder des Familienaktionariats einig.

Das sagt die Jury
«Mehrere Faktoren gaben aus Sicht der Jury den Ausschlag: Einerseits ist es die durchdachte, authentische Inszenierung der Geschichte und Tradition des Hauses. Das ‹Waldhaus› wurde über Jahrzehnte zum eigentlichen Hotspot der Kulturszene, indem hier klassische Konzerte, Jazz, literarische und philosophische Anlässe auf höchstem Niveau zelebriert werden. (...) Die Mitarbeitenden werden gefördert und erleben aufrichtige Wertschätzung. Viele Mitar­beitende arbeiten schon seit Jahrzehnten im ‹Waldhaus›. Zwischen der Inhaberfamilie und dem ‹Waldhaus›-Team herrscht eine natürliche, äusserst respektvolle Beziehung. (...) Kein Wunder, haben die Dietrichs auch wirtschaftlich Erfolg. (...) Luxus im ‹Waldhaus› sind menschliche Kontakte, Beziehungen, der persönliche Service, das Engagement für den Gast. Die üblichen Luxus-Brands findet man im ‹Waldhaus› nicht.»