Die Stille im Raum ist ungewohnt. Der Blick der Zuschauer schweift über das stilvolle Interieur des Hotelzimmers: ein Bett, ein Nachttisch, ein Spiegel. Dann geht das Licht aus und gefühlte zehn Minuten später das leise Klicken eines Schlosses – eine Tür öffnet sich. Silvia tritt ein, einen Rollkoffer vor sich herschiebend. Sie lässt ihren Blick schweifen, als suche sie Spuren der Vergangenheit. Das Publikum hält den Atem an. 

Mit «Toulouse» wagt das Theater an der Effingerstrasse ein aussergewöhnliches Experiment: Theater in Hotelzimmern. Die Inszenierung von Markus Keller lässt das Publikum auf Tuchfühlung mit den Darstellern gehen. Vom 18. Januar bis 14. März tourt das Stück durch acht Hotels im Kanton Bern, beginnend im Schloss Hünigen in Konolfingen.

Das Hotelzimmer braucht eine gewisse Grosszügigkeit, damit bis zu 30 Zuschauerinnen und Zuschauer Platz finden.
Walter Glauser, Organisator

Für Hoteliers interessant
Die Produktion ist auch für Hoteliers interessant, denn das Konzept verbindet Kultur mit Gastronomie und öffnet die Türen in die Hotelzimmer. Während die eine Hälfte des Publikums ein Dreigang-Menü geniesst, verfolgt die andere die intensive Darbietung im Hotelzimmer. Nach etwa 50 Minuten wird gewechselt. Für die Hotels bringt das nicht nur einen kulturellen Mehrwert, sondern auch potenziell neue Gäste.

Bei der Suche nach geeigneten Hotels und bei der Abstimmung interner Abläufe gab es einige Herausforderungen. «Das Hotelzimmer braucht eine gewisse Grosszügigkeit, damit bis zu 30 Zuschauerinnen und Zuschauer Platz finden», sagt Walter Glauser, Organisator und Koordinator der Aufführungen. Auch müssten Details wie die Rolle und Aufgaben des Gastgebers oder Menüvarianten bei Unverträglichkeiten im Voraus geklärt werden. «Manche Hoteliers dachten, das Projekt sei ein Selbstläufer», erzählt Markus Keller, Regisseur und Mitglied der Geschäftsleitung. «Doch ohne gezielte Werbung der einzelnen Betriebe geht es nicht.»

Die Resonanz ist bisher positiv, die Erwartungen hoch. «Wir möchten zeigen, wie aufregend und lebendig Theater sein kann», so  Keller. «Das ist etwas, was kein Film oder Streamingdienst bieten kann.» Deshalb ist das Theater an der Effingerstrasse trotz des hohen Aufwands bei Organisation und Mittelbeschaffung bei Interesse offen, weitere Aufführungsorte im Kalender aufzunehmen.

Das Theaterstück
Die Handlung erzählt von einer Paarbeziehung am Scheideweg. Neunzehn Jahre lang waren Silvia, gespielt von Karo Guthke, und Gustav, gespielt von Christoph Keller, verheiratet. Nun – nach der Trennung – treffen sie sich in jenem Hotel wieder, in dem ihre Beziehung begann.

Doch statt einem Neuanfang lauern unter der Oberfläche unausgesprochene Worte, alte Wunden – und ein Geheimnis, das alles ins Wanken bringt. Guthke weckt den vielschichtigen Charakter von Silvia mit Kraft und Ausdruck zum Leben. Silvias Gedanken und Handlungen kratzen an der Grenze zum Absurden, was sie für Gustav umso begehrlicher macht, obwohl er am Anfang einer neuen Beziehung steht. Christoph Keller ist nicht nur mit seiner Figur, sondern auch mit Silvias Erwartungen, dem Druck der neuen Liebe und einem Extremereignis an der Arbeit konfrontiert. Der Schauspieler reagiert mit Energie und Natürlichkeit, was seine Figur glaubhaft macht.

Regisseur Keller hatte die Idee zur Inszenierung, als er das Stück «Toulouse» von David Schalko las. Ursprünglich für eine grosse Bühne konzipiert, wurde es für die Hotelzimmerbühne adaptiert. «Die Nähe zu den Schauspielenden ist faszinierend», sagt Keller. «Die Zuschauer erleben jede Nuance, jedes Flüstern und jede Geste hautnah.»

Am Ende des Abends verlässt das Publikum das Hotelzimmer, bereichert durch ein Erlebnis, das den Alltag vergessen lässt. Silvia und Gustav jedoch bleiben. Sie richten das Kissen noch einmal zurecht – aus Gewohnheit oder vielleicht, um zu vergessen, was gerade geschah.

Impressionen vom Theater «Toulouse»

Auszeichnung für Gasthausstück
2024 wurde das Theater an der Effingerstrasse für seine Gasthausstücke ausgezeichnet. Die Verbindung von Theater und Gastronomie erhielt den Innovationspreis von Gastro Stadt Bern und Umgebung. Eine Ehrung, die die Kreativität und den Mut zu neuen Wegen würdigt.