Darf der Staat in sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Gesamtarbeitsverträge eingreifen? Laut Bundesverfassung nicht. Der Staat soll nur dort im Arbeitsmarkt intervenieren, wo keine sozialpartnerschaftliche Lösung realisierbar ist. Wenn Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände die Arbeitsbedingungen vertraglich regeln, muss der Staat nicht eingreifen. [RELATED]
Klare Sache. Wäre da nicht ein Bundesgerichtsentscheid. 2017 erhielt der Kanton Neuenburg grünes Licht, einen kantonalen Mindestlohn einzuführen, sofern dieser der Armutsbekämpfung dient. Bis dato folgten vier Kantone – Jura, Tessin, Genf, Basel – dem Präzedenzfall. Die Folge: Der seit über 100 Jahren durch die Sozialpartnerschaften garantierte soziale Frieden scheint gestört.
Bundesrat unter Druck: Umstrittene Gesetzesänderung
Dezember 2022: Das Parlament nimmt die Motion Ettlin «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen» entgegen der Empfehlung des Bundesrats an. Der Vorstoss will, dass die Bestimmungen eines allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrags (AVE GAV) zum Mindestlohn gegenüber Bestimmungen der Kantone Vorrang haben. Im Auftrag des Parlaments entwirft der Bundesrat eine Änderung des Bundesgesetzes über die AVE GAV.
Mai 2024: Die Antworten aus der Vernehmlassung liegen vor. 57 Branchen- und Wirtschaftsverbände stellen sich fast einhellig hinter das Anliegen. HotellerieSuisse begrüsst die Motion Ettlin, ist mit dem Vorschlag des Bundesrats jedoch nur teilweise zufrieden. Der Verband sieht Anpassungsbedarf und übt scharfe Kritik: «Unverständlich ist die Empfehlung des Bundesrates, die Motion Ettlin trotz des präsentierten Vernehmlassungsentwurfs nicht umzusetzen. Wir beurteilen dies als staatspolitisch höchst fragwürdig», sagt Martin von Moos, Präsident von HotellerieSuisse. Der Bundesrat begründet seine Empfehlung damit, das Ziel der Motion Ettlin verstosse gegen Grundprinzipien der Schweizer Rechtsordnung und verletze die bundesstaatliche Kompetenzaufteilung und das Legalitätsprinzip.
Der funktionierende Interessenausgleich ist ein Erfolgsfaktor unserer Wirtschaft.
Martin von Moos, Präsident HotellerieSuisse
Ein von verschiedenen Branchenverbänden in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten widerspricht dieser Auffassung allerdings deutlich. Es zeigt auf, dass die Motion Ettlin nicht gegen die Schweizer Rechtsordnung verstösst, sondern vielmehr die Rechtssicherheit stärkt und vor Lohndumping durch einheitliche sozialpartnerschaftliche Mindestlohnregelungen schützt. Staatliche Mindestlöhne würden die bewährte Kooperation von Arbeitgebern und Arbeitnehmenden in Branchen, welche einen AVE GAV haben, gefährden. Martin von Moos: «Die Branche benötigt einheitliche Vorgaben, damit die Sozialpartnerschaft ihre Funktion zur Sicherung fairer Arbeitsbedingungen wahrnehmen kann.»
Schutz der Sozialpartnerschaft: HotellerieSuisse will klare Regelungen
Martin von Moos betont die Notwendigkeit, Sozialpartnerschaften und Allgemeinverbindlicherklärungen von Gesamtarbeitsverträgen zu schützen: «Das kollektive Arbeitsrecht schafft einen fairen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Der funktionierende Interessenausgleich ist ein Erfolgsfaktor unserer Wirtschaft.» HotellerieSuisse fordert klare gesetzliche Regelungen, die den Vorrang der AVE-GAV-Mindestlohnbestimmungen vor kantonalen Bestimmungen sichern. Nur so könne die Sozialpartnerschaft effektiv fortgeführt und der einheitliche nationale Wirtschaftsraum gewährleistet werden. Der Verband weist darauf hin, dass die Sozialpartner über umfassende Kenntnisse der branchenspezifischen Besonderheiten verfügen und die Arbeitsbedingungen entsprechend anpassen können. Konkret bemängelt HotellerieSuisse die fehlende Klarheit im Anwendungsvorrang allgemein verbindlich erklärter GAV gegenüber kantonalen Bestimmungen und fordert explizite Formulierungen, die den Vorrang der AVE-GAV-Mindestlohnbestimmungen festlegen.
Die Vernehmlassung zur Motion Ettlin ging Anfang Mai zu Ende. Im Herbst wird der Bundesrat voraussichtlich den Bericht zu den eingegangenen Vernehmlassungsantworten veröffentlichen. Frühestens im Frühjahr 2025 geht die Änderung des Gesetzes ins Parlament.