1974 schlossen die Sozialpartner im Gastgewerbe erstmals einen Landes-Gesamtarbeitsvertrag (L-GAV) ab. Heuer feiert die Branche damit das 50-Jahr-Jubiläum einer erfolgreichen und sorgfältig austarierten Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. Leider sieht sich das bewährte System zunehmend Angriffen von verschiedenen Seiten ausgesetzt. [RELATED]
Zum einen sind dies Angriffe auf die Allgemeinverbindlichkeit des GAV. Ist ein GAV allgemein verbindlich erklärt (sogenannter AVE GAV), gelten die festgelegten Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmende, die nicht Mitglied eines Verbandes sind, und sorgen so für fairen Wettbewerb. Dies ist auch in unserer Branche der Fall.
Branchenspezialisten müssen die Verhandlung übernehmen.
Forderungen aus Politik und Branchen ohne AVE GAV nach einer strikteren Regulierung und Eindämmung des AVE GAV und die zunehmende Polemik darum gefährden die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit aller AVE-GAV-Branchen, so auch unserer. HotellerieSuisse setzt sich dafür ein, dass solche Angriffe abgewehrt werden, etwa im Rahmen seiner Mitgliedschaft beim Schweizerischen Arbeitgeberverband und beim Schweizerischen Gewerbeverband.
Die Umsetzung und Einhaltung des AVE GAV oder das grosszügige Aus- und Weiterbildungsprogramm verursachen Kosten, die durch Beiträge der vertragsschliessenden Verbände und aller Firmen und Beschäftigten in den betreffenden Branchen gedeckt werden. Um die Transparenz der Mittelverwendung zu dokumentieren, veröffentlicht unsere Branche bereits seit Jahren den Geschäftsbericht und die Jahresrechnung. Schliesslich überprüft das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) als Aufsichtsbehörde akribisch jährlich die Geldflüsse in der Sozialpartnerschaft in AVE-GAV-Branchen. Mehr Regulierung braucht es nicht.
Nebst den Angriffen auf die Allgemeinverbindlichkeit bereitet uns auch die Debatte um staatlich regulierte Mindestlöhne Sorgen. Gerade die Beherbergung und die Gastronomie verfügen über eine etablierte Sozialpartnerschaft, welche einen der grössten Gesamtarbeitsverträge für rund 250 000 Mitarbeitende pflegt. Wir sind überzeugt, dass Branchenspezialisten die Verhandlung von Löhnen übernehmen müssen, damit diese auch zur Entwicklung der Branche beitragen können. Wir sprechen uns deshalb klar gegen kommunale oder regionale Mindestlöhne aus, da die Beherbergung eine stark standortgebundene Branche ist. Für einzelne Betriebe ist es durch ihre Lage bereits jetzt eine grosse Herausforderung, ausreichend Personal zu rekrutieren. Würden nun auch noch unterschiedliche Lohnverhältnisse auf den Markt einwirken, würde dies zu einer enormen Wettbewerbsverzerrung führen.
In der gesamten Debatte geht oft vergessen, dass die Attraktivität einer Stelle sich nicht nur am Lohn misst, sondern auch Arbeitsbedingungen und andere Lohnbestandteile einen entscheidenden Beitrag zur Zufriedenheit der Mitarbeitenden leisten. Diese werden nicht zuletzt in Gesamtarbeitsverträgen geregelt.
Als Antwort auf die zahlreichen Rufe um kantonale Mindestlöhne hat das Parlament bereits 2022 einen Vorstoss von Ständerat Erich Ettlin angenommen, der fordert, dass sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Löhne Vorrang vor staatlichen Mindestlöhnen haben. Der Bundesrat hat dazu in der ersten Jahreshälfte einen Gesetzesvorschlag in die Vernehmlassung geschickt, welcher nicht zufriedenstellend ist, da der Vorrang der AVE-GAV-Mindestlohnbestimmungen darin nicht vollständig festgehalten ist. Wir werden uns im weiteren parlamentarischen Prozess dafür einsetzen, dass der Wille des Motionärs effektiv umgesetzt wird.
Bettina Baltensperger ist Leiterin Arbeitsmarkt und Sozialpartnerschaft bei HotellerieSuisse.