Herr Bundesrat, sehen Sie sich selbst als Bauer oder Winzer?
Der Hof, den ich zusammen mit meinem Bruder führte, war in den Anfängen ein Mischbetrieb mit Landwirtschaft, Milchwirtschaft und Wein. Mein Bruder war mehr auf den Weinbau spezialisiert, aber an den Wochenenden haben wir uns mit dem Melken der Kühe abgewechselt, und ich habe ebenfalls Reben behandelt. Ich bin also Bauer und Winzer.
Ihrem Heimatkanton Waadt steht mit der nur alle 20–25 Jahre stattfindenden Fête des Vignerons ein grosses Fest bevor. Werden Sie es eröffnen?
Nein, nicht ganz. Aber ich bin an der Eröffnungszeremonie dabei. Das war übrigens nicht immer so. Für die Fête des Vignerons von 1977 wollte meine Grossmutter uns Kindern Eintrittskarten schenken. Aber ich war damals 18-jährig und hatte nur Fussball im Kopf, was sie kränkte. Im Nachhinein habe ich mein Desinteresse bereut!
Ist die Fête des Vignerons ein Fest für die Romandie oder für die ganze Schweiz?
Ich denke, dieses Fest gehört der ganzen Schweiz. Die Deutschschweizer kommen auch, und sie kommen gerne. Schliesslich gibt es ja auch in der Deutschschweiz Kantone mit einer Winzer-Tradition – und hervorragende Weine.
Sie sind seit Anfang Jahr als neuer Wirtschaftsminister auch Tourismusminister. Wie haben Sie die Tourismusbranche in den ersten hundert Tagen erlebt?
Ich habe mich mit mehreren Exponenten getroffen. Aber es ist ja nicht so, dass ich den Tourismus vorher nicht wahrgenommen hätte. Meine Frau und ich gehören nicht zu den Leuten, die oft grosse Auslandreisen unternehmen. Wir wissen, dass man im eigenen Land noch viele schöne Regionen entdecken kann. Es gibt nicht nur die Tourismusmagnete Zermatt, den Rheinfall, den Jet d’eau in Genf oder die Kapellbrücke in Luzern. Wahrscheinlich kennen die Schweizer die Schweiz als Tourismusland zu wenig. [IMG 2]
Tourismus ist mit über 200 000 Beschäftigten und einer Bruttowertschöpfung von rund 17 Milliarden auch ein wichtiger Wirtschaftszweig. Wird das in diesem Land auch wahrgenommen?
Wie Herr und Frau Schweizer das sehen, ist schwer zu sagen. Ich glaube, bei den Parlamentariern sind sich alle einig, dass der Tourismus für die Schweizer Wirtschaft eine der wichtigsten Branchen ist, und das Bewusstsein, dass die Branche wegen der Rahmenbedingungen wie etwa der Währung und den hohen Kosten Probleme hat, ist am Wachsen. Das zeigt sich ja auch bei den Programmen, die der Bundesrat aufgegleist hat.
Sie müssen vor dem Parlament mit der Botschaft zur Standortförderung 2020–23 eine Vorlage vertreten, die Sie nicht selbst ausarbeiten konnten. Wo möchten Sie die Akzente setzen, oder sind es womöglich andere als diejenigen Ihres Vorgängers?
Die Frage ist legitim. Grundsätzlich ist die Botschaft klar und sehr bestimmt. Ich sehe sie als Ausdruck von Kontinuität und Konsolidierung dessen, was bisher aufgebaut wurde. Aus meiner Sicht ist der gegebene Rahmen also korrekt. Aber nun möchte ich, dass wir bereits jetzt über die Zukunft nachdenken und Entwicklungen antizipieren. Dazu gehört auch, sich selbst zu hinterfragen. Deshalb habe ich eine verwaltungsexterne, neutrale Evaluation der Dienstleistungen von Schweiz Tourismus und eine breite Analyse der Situation und der Perspektiven in den Berggebieten in Auftrag gegeben. Ein kritischer Blick von aussen ist nicht negativ. Er zeigt uns, wo wir Probleme haben. Ist unsere Unterstützung immer noch angemessen? Investieren wir in die richtigen Sektoren, etwa im Bereich der Digitalisierung? Und wird uns das, was wir heute tun, morgen einen Mehrwert bringen? Das sind Fragen, die man sich heute stellen muss, um vielleicht in nächster Zeit einige Akzente anders zu setzen.
Die Tourismusverbände setzen sich für ein grösseres Budget für Schweiz Tourismus ein. Wie stehen Sie dazu?
Die Position des Bundesrats ist klar: Anstatt der 240 Millionen, die verlangt wurden, sind es 220,5 Millionen. Lassen Sie mich daran erinnern: 2016–2019 standen 210,7 Millionen zur Verfügung. Der Bundesrat ist der Meinung, dass die geforderte Erhöhung übertrieben war, und dass für die touristische Nachfrage in den kommenden Jahren ein Aufschwung erwartet werden kann. Nun werden Sie mir sagen, dass die Zahlen von Januar und Februar eher das Gegenteil zeigen und dass diese substanzielle Erhöhung der Mittel aus der Bundeskasse gerechtfertigt wäre. Aber wissen Sie, wenn ich nur allein mein Departement nehme, die Landwirtschaft, die Bildung – alle wollen mehr Mittel, mehr Geld. Wachstumsraten sind nicht immer der Mass- stab. Auch die Hochschulen sind keine heilige Kuh! Es geht vielmehr darum, konkret zu zeigen, was genau mit dem Geld gemacht wird: Wo investieren Sie? Was ist die Hebelwirkung? Gibt es Synergien, vielleicht mit den Kantonen? Haben sie besondere Projekte? Da muss man antizipieren.
Denken Sie darüber nach, auch die Ende 2017 verabschiedete Tourismusstrategie des Bundes zu hinterfragen?
Tourismusstrategie und Botschaft zur Standortförderung sollten sich entsprechen. Das Ziel ist also, dass die Wirkung der Strategie beibehalten wird. Sie ist ja nicht vom Himmel gefallen, man muss sie analysieren und die Lehren für die nächste Strategie daraus ziehen. Was ich nicht möchte – und ich übertreibe jetzt – ist die Haltung, dass man alle vier Jahre je nach kleineren Anpassungen wieder 220, 210 oder 230 Millionen Franken einsetzt, mal etwas weniger, mal etwas mehr. Ich möchte nicht, dass man in der Routine erstarrt.
Wo setzen Sie Schwerpunkte?
Ich möchte, dass wir über die Perspektiven in den Berggebieten diskutieren. Was kann man tun, damit die Jungen wieder daran interessiert sind, nach ihrer Ausbildung dorthin zurückzukehren und Leben in diese Regionen zu bringen? Die Probleme beginnen schon bei der Raumplanung. Alle wollen eine intakte Umwelt, aber das löst das Problem der lokalen Bevölkerung nicht, und wenn diese einmal abgewandert ist, haben wir leere Chalets, kalte Betten und Infrastrukturen, die nicht mehr gewartet werden. Und wenn wir die Herausforderung der Klimaerwärmung nicht meistern können, werden wir eine Verödung dieser Regionen erleben. Über all das müssen wir jetzt reden.
Im Zentrum der Tourismusstrategie des Bundes steht die Stärkung des Unternehmertums.
Und das ist gut so. Unternehmertum ist überall notwendig. Sie können die bestmögliche Ausbildung haben und die neuen Technologien beherrschen, aber wenn Sie nicht die Fähigkeit haben, vorauszudenken und die Entwicklung, den Fortschritt in ihrem Unternehmen oder in der Branche voranzutreiben, haben Sie am Ende ein Problem. Darüber hinaus ist und bleibt die Gastfreundschaft ein absolut zentrales Element im Tourismus.
In der Volksabstimmung vom 19. Mai über das revidierte Waffengesetz steht das auch für den Tourismus bedeutende Schengen-Abkommen auf dem Spiel. Werden Sie sich engagieren, und wie werden Sie sich engagieren?
Der Bundesrat hat sich für diese Gesetzesrevision ausgesprochen, weil er sie als angemessen einschätzt. Dabei hat er den ganzen Handlungsspielraum genutzt, der zur Verfügung stand. Ich habe am Westschweizer Fernsehen und am Radio die Botschaft des Bundesrats zugunsten des Gesetzes vertreten. Dabei war und ist meine Rolle diejenige des Wirtschaftsministers. Bei jedem Auftritt – ich halte regelmässig vor interessierten Kreisen Vorträge – platziere ich einen Absatz mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit, den Bundesrat zu unterstützen.
Sie haben Verständnis, dass gerade unsere Branche beunruhigt ist?
Ja. Ich verstehe vollkommen, dass die Situation komplizierter würde, wenn wir plötzlich vom Schengenraum ausgeschlossen wären. Das war auch einer der Gründe, weshalb die Schweiz dem Schengenraum beigetreten ist, abgesehen von den Migrations- und Sicherheitsaspekten, die man auch nicht vernachlässigen darf.
Sie sind auch Arbeitsminister und Sie wissen, dass wir wie andere Branchen auch von der Stellenmeldepflicht betroffen sind. Sind Sie bereit, das Gesetz zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative zu revidieren, um zumindest den bürokratischen Aufwand für die Unternehmen zu erleichtern?
Es gilt auf einer Seite, die Kosten zwischen Bund und Kantonen besser zu verteilen. Das entsprechende Gesetz wird im Parlament diskutiert werden, und dann muss man vorwärts machen. Für den materiellen Vollzug hat der Bundesrat den Handlungsbedarf erkannt. Wir werden im Rahmen des Finanzierungsgesetzes und der Verordnungen vereinfachen. Vorgesehen ist eine neue Liste der Berufsarten, nachdem die Branchenverbände schon interveniert haben und angehört wurden. Man hat mir Fälle zitiert, wo verschiedene Berufe in ein zu grobes Raster gepresst sind, etwa der berühmte Fall des Kochs – wo man doch sowieso keine Köche findet. BFS und Seco sind bereit, die Situation zu verbessern. Es wird einfach noch ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen, bis die neue Verordnung bereit ist.
Eine Frage zur Sozialpartnerschaft. Was ist aus Ihrer Sicht wichtiger: die kantonalen Gesetze über den Mindestlohn oder das Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen?
In diesem Land hat meines Erachtens die Sozialpartnerschaft Priorität. Das muss so bleiben. Dafür werde ich mich auch einsetzen, denn es ist mir bewusst geworden, dass zwischen den Sozialpartnern das Vertrauen wiederaufgebaut werden muss. Aber ich sehe das Departement und das Seco hier als Vermittler zwischen den Sozialpartnern und nicht als Interventionisten. Die Sozialpartner müssen miteinander diskutieren, sie müssen sich finden. Wenn es nicht gelingt, kann man das Seco hinzuziehen. Dann können wir versuchen, Vorschläge zu machen, um zu helfen. Aber es ist nicht unsere Rolle, uns von Anfang an einzumischen. [IMG 3]
Eine letzte Frage an den Tourismusminister. Wo werden Sie Ihre nächsten Schweizer Ferien verbringen?
Sicher in Villars. Wir haben dort ein Studio, das wir renovieren müssen. Da wird es diesen Sommer Arbeit geben.
Also keine Ferien?
Doch, doch. Wir können ja eine Stunde arbeiten und dann beschliessen, einen Spaziergang zu machen, Freunde zu treffen, ein Raclette zu essen. Eine perfekte Work-Life-Balance.
Das Interview führten Gery Nievergelt und Christophe Hans.