Tina Boetsch, seit 1. Februar führen Sie die Engadin St. Moritz Tourismus AG (ESTM). Wie verlief Ihr Start mitten in der Wintersaison?
Turbulent. Normalerweise hätten um diese Zeit das «White Turf» und andere Anlässe stattfinden sollen. Stattdessen trat kurz vor meinem Antritt in St. Moritz der Corona-Ernstfall ein, das «Badrutt’s Palace» und das «Kempinski» mussten schliessen. Zum Glück waren Krisenkommunikation und Zusammenarbeit mit den Behörden vorbildlich, was das Vertrauen bei den Leistungsträgern, der Bevölkerung und bei den Gästen sicherlich gestärkt hat.
Sie waren zuletzt bei Lindt & Sprüngli tätig. Wenn das Engadin eine Schokoladensorte wäre, was für eine?
Selbstverständlich die Lindor-Kugel! Sie ist ein Traditionsprodukt und ein Bestseller, und es gibt sie in 30 verschiedenen Geschmacksrichtungen, welche die Vielseitigkeit des Engadins gut widerspiegeln würden.
Tina Boetsch ist seit dem 1. Februar CEO der Engadin St. Moritz Tourismus AG (ESTM AG). Die gebürtige Baslerin hat an der Universität St. Gallen (HSG) Wirtschaft studiert und später doktoriert. Ihre berufliche Laufbahn startete sie bei der damaligen Swissair. Später war sie Mitglied der Geschäftsleitung bei Maestrani Schokolade in Flawil SG, bevor sie bei Lindt & Sprüngli den Aufbau der Geschäftseinheit Chocolate Competence Center mit dem neuen Besucherzentrum «Lindt Home of Chocolate» verantwortete. Die 45-Jährige ist verheiratet und lebt mit ihrer Partnerin zukünftig in Zuoz im Engadin. Ihre Freizeit verbringt sie gerne mit Skifahren, Wandern, Kitesurfen und dem Besuch von Kunst- & Kulturveranstaltungen.
Und welche Geschmacksrichtung verkörperte St. Moritz?
(überlegt) Ich würde sagen Salted Caramel. Im ersten Moment extrem süss, je besser man es kennenlernt, desto mehr entfaltet sich die Würze. Ein überraschendes und aufregendes Geschmackserlebnis mit Ecken und Kanten.
Womit wir beim Thema sind. Ist die 2-Marken-Strategie unter dem Dach der ESTM, wie sie im Dezember 2017 beschlossen wurde, heute noch sinnvoll?
Absolut. St. Moritz ist einzigartig, weithin bekannt und hat eine grosse Strahlkraft. Es ist wichtig, dass wir mit St. Moritz und seinen berühmten 5-Sterne-Hotels in den ausländischen Märkten werben können. Im Ausland sagen die Leute oft «wir fahren nach St. Moritz», obwohl sie dann möglicherweise in Pontresina absteigen. Der Schweizer Gast hingegen spricht eher vom «Engadin» – ganz egal, ob er in Pontresina oder in St. Moritz übernachtet. Die Übergänge sind fliessend. Beide Marken ergänzen sich. Die 2-Marken-Strategie hilft uns dabei, die jeweiligen Stärken in den verschiedenen Märkten auszuspielen.
Unumstritten ist diese Strategie offensichtlich nicht. St. Moritz hat den Leistungsauftrag an die ESTM Ende letzten Jahres gekündigt, im Dezember 2022 wird er auslaufen. Hat die 2-Marken-Strategie somit ein Verfallsdatum?
St. Moritz hat den Leistungsauftrag mit der Absicht gekündigt, ihn neu auszuhandeln und die Organisationsstrukturen im Tourismus-Management zu überdenken – so steht es in der Medienmitteilung vom 10. Dezember. Wir haben mit der Gemeinde und der Tourismuskommission von St. Moritz bereits intensive Gespräche geführt und evaluiert, wo die gemeinsamen Interessen liegen, was die Erwartungen an uns in Zukunft sind und wie wir weiter vorgehen wollen. Aus unserer Sicht ist die bestehende 2-Marken-Strategie auch im Interesse von St. Moritz.
Martin Berthod, Gemeindevorstandsmitglied von St. Moritz und seit einem halben Jahr Mitglied des ESTM-Verwaltungsrats, kritisierte in der Vergangenheit Doppelspurigkeiten zwischen den Tourismusorganisationen.
Klar, gewisse Doppelspurigkeiten gibt es. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Synergien. Diese gilt es nun auszuloten. Letztendlich ist die Gemeinde St. Moritz unsere Kundin, und wir haben einen Auftrag zu erfüllen. Am Schluss kann die Kundin mitentscheiden, was für den Ort am besten ist. Das gilt übrigens genauso für alle anderen Gemeinden der Region Maloja. Bei der für Juli angedachten nächsten ausserordentlichen Generalversammlung soll über die zukünftige Ausrichtung des Leistungsauftrags der ESTM entschieden werden. Dies beinhaltet auch die Zusammenarbeit der ESTM mit den Gemeinden.
Ursprünglich sollten sieben Personen im Verwaltungsrat der ESTM Einsitz nehmen. Aktuell sind es erst vier – ad interim. Bis wann wird der Verwaltungsrat komplettiert?
Die bestehenden Mitglieder des Verwaltungsrates wurden an der Generalversammlung für ein weiteres Amtsjahr wiedergewählt. Absicht ist eine Verkleinerung des Verwaltungsrats von sieben auf fünf Mitglieder mit entsprechender Statutenanpassung für die GV 2022.
Darf man davon ausgehen, dass dann auch mindestens eine Frau in den Verwaltungsrat gewählt wird?
(lacht) Ich würde es mir natürlich wünschen! Schlussendlich muss es ein guter Mix an Kompetenzen und Erfahrungen sein.
Aktuell besteht das Aktionariat der ESTM ausschliesslich aus Gemeinden. Neu planen Sie, auch Leistungsträger zu integrieren. Weshalb?
Wir möchten unsere Leistungspartner aus Hotellerie, Parahotellerie, Bergbahnen sowie Handel- und Gewerbeverband enger an uns binden und ihnen ein Drittel der Aktien über eine Aktienkapitalerhöhung anbieten. Als Zeichen für ihren Einsatz und Beitrag zur Entwicklung des Tourismus im Tal. Ausserdem möchten wir einen Beirat von sieben bis zehn Leuten ins Leben rufen, der dem Verwaltungsrat beratend zur Verfügung steht. Er soll ein wichtiger Impulsgeber von aussen sein.
Bis 2023 soll sich die ESTM von einer Marketingorganisation zu einer Destinationsmanagement-Organisation wandeln. Was heisst das konkret?
Unser Hauptfokus wird auch in Zukunft die touristische Vermarktung der Region bleiben. Aber dazu braucht es geeignete Produkte und Angebote. Diese wollen wir in enger Zusammenarbeit mit den Gemeinden und den Leistungsträgern entwickeln.
Zum Beispiel?
Anfang April haben St. Moritz und das Engadin den Zuschlag für die Ski-Freestyle- und Snowboard-Weltmeisterschaften im Jahr 2025 erhalten. Als Tourismusorganisation müssen wir jetzt die richtigen Partner anstossen und an einen gemeinsamen Tisch holen, um das Engadin über die WM hinaus erfolgreich als Freestyle-Region für das Gästesegment in Sport und Lifestyle zu positionieren.
Und Sie denken, dass Ihnen das gelingen wird?
Bevor ich den Job angetreten habe, wurde ich gefragt, ob ich viel Geduld und Durchsetzungsvermögen mitbringe. Wie bringe ich ein Team aus zwölf Gemeinden mit zwölf Meinungen dazu, gemeinsame Entschlüsse zu fassen, die dann von allen mitgetragen werden? Das ist in der Tat eine Herausforderung. Aber so eine WM ist eine riesige Chance mit grosser Strahlkraft. Da spürt jeder hier im Tal einen Funken Stolz in sich. Das mobilisiert unsere Einheit, davon bin ich überzeugt.
Ist es da eigentlich von Vorteil, dass Sie keine Einheimische sind?
Es kann beides sein. (lacht) Nein, im Ernst, ich denke, es ist ein Vorteil. Ich kann die Sache frisch angehen. Aber es gibt zweifellos Fettnäpfchen, an denen auch ich nicht vorbeikommen werde.
Was ist Ihre persönliche Vision für den Engadiner Tourismus im Jahr 2030?
Das Engadin ist in seiner Natur vielfältig und einzigartig. Das gilt es zu bewahren. Genauso die Individualität der Dörfer mit ihren Geschichten und Traditionen. Das Engadin soll zur Ganzjahresdestination werden, die gezielt Gäste auch im Frühling oder Herbst anzieht. Gerade für St. Moritz gibt es da noch Potenzial: Der Ort wirbt mit 322 Sonnentagen im Jahr – viele Hotels haben jedoch nur im Sommer und im Winter offen.
Eine Frage zum aussergewöhnlichen Langlauf-Winter 2020/21: Bleibt uns der Trend erhalten?
Ja, diesen Winter haben einige Skilehrer zum Langlauflehrer umgesattelt. Der Bedarf nach Langlaufkursen war enorm. Es gibt ein gesteigertes Bewusstsein für Natur und Gesundheit. Beim Langlaufen kommt man da voll auf seine Kosten. Dieser Boom wird die nächsten Jahre anhalten. Mit dem Engadin Skimarathon und «La Diagonela» haben wir starke, hochklassige Veranstaltungen für Spitzenathleten und Breitensportler.
Sieht man Sie auch auf Langlaufski?
Noch nicht. Aber ich freue mich darauf, nächsten Winter damit anzufangen!