Herr Niederberger, seit fast vier Monaten walten Sie als Direktor des Schweizer Tourismus-Verbands (STV). Was hat Sie an dieser Stelle gereizt?

Zum einen die Netzwerkarbeit – hier liegt eine meiner Stärken, die ich auch in früheren Positionen einbringen konnte – und zum anderen der Austausch über die gesamte Wertschöpfungskette im Tourismus hinweg. Es ist eine sehr dynamische Branche mit vielen unterschiedlichen Themenbereichen. Aufgabe des STV ist es, dieser Vielfalt Raum zu lassen und zugleich in den wichtigen Punkten die Interessen zu bündeln. Mich hier um ausgewogene Lösungen zu be-mühen, ist eine spannende Herausforderung.

Zur Person
Bevor Philipp Niederberger am 1. Mai 2021 zum Direktor des Schweizer Tourismus-Verbands gewählt wurde, arbeitete er unter anderem als Fraktionssekretär der Mitte-Fraktion im Parlament und war fürs EDA in der Schweizer Botschaft im Sultanat Oman tätig. Niederberger studierte in Genf und Lausanne. Der 32-Jährige Walliser verfügt über einen Bachelor in internationalen Beziehungen und hat einen Master in Public Management und Politik. Er ist bilingue und wohnt in Brig-Glis VS. Seine Freizeit verbringt er wann immer möglich in den Bergen – im Winter auf dem Snowboard, im Sommer beim Wandern. Daneben liest er gern und geht ins Theater.

Sie kommen aus der politischen Ecke, waren unter anderem als Mitte-Fraktionssekretär im Bundesparlament tätig. Wie viel Wissen hatten Sie über den Tourismussektor?

Auch wenn ich nie unmittelbar in der Tourismusbranche tätig war, kam ich bei meinen bisherigen Tätigkeiten immer wieder mit dem Tourismus in Berührung – sei es bei der Begleitung des Parlamentsbetriebs oder als ich in Diensten des EDA die Interessen der Schweiz im Ausland vertreten habe, denn der Tourismus ist ein enorm wichtiger Sektor für unsere Wirtschaft. Aber natürlich kann ich jetzt auch viel Neues entdecken. Es war nicht zuletzt diese Chance, die mich zum STV gebracht hat.

Ihre Kernmitglieder sind elf grosse Verbände, die selbst stark lobbyieren und medial präsent sind. Wozu braucht es noch einen Dachverband?

Wir bieten eine gemeinsame Plattform zur Verständigung über geteilte Interessen, damit der Schweizer Tourismus mit einer konsolidierten Haltung nach aussen auftreten kann. Wir müssen antizipieren, wo divergierende Meinungen vorherrschen, aber vor allem auch die Gemeinsamkeiten herausarbeiten. In der aktuellen Krise kommt uns als Dachverband eine wichtige Rolle zu, weil wir im Parlament und gegenüber dem Bundesrat im Namen der Mitglieder als eine Stimme vorstellig werden.

Was braucht es von Ihrer Seite, damit man eine gutschweizerische Kompromisslösung findet?

Die Netzwerkarbeit ist sicher nicht immer einfach – hier sind Geduld und Diplomatie gefragt. Ausserdem braucht es eine gute Dialogfähigkeit, um einen Austausch zu etablieren. Dafür muss man offen auf die einzelnen Branchen zugehen und insbesondere gut zuhören.

Die Netzwerkarbeit ist sicher nicht immer einfach – hier sind Geduld und Diplomatie gefragt.

Der STV zählt rund 500 Mitglieder. Ein Netzwerk, das eigentlich unüberschaubar ist.

Doch, genau das ist mein Anspruch. Als Dachverband müssen wir den Überblick über den gesamten Tourismussektor behalten. Unsere Aufgabe ist es, die gemeinsamen Nenner herauszufiltern und diese nach aussen zu vertreten.

Unter den Mitgliedern sind auch kleine Unternehmen wie die Leinenweberei Bern. Wie kann man da einen gemeinsamen Nenner finden?

Der Tourismus funktioniert nur als Gesamtpaket. Natürlich haben nicht immer alle Mitglieder die genau gleichen Interessen, aber die Pandemie hat uns gezeigt, dass diese gar nicht so weit auseinanderliegen. Wir sind dafür da, ihre Anliegen zu koordinieren und gute Rahmenbedingungen für alle zu schaffen.

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Wie können Sie die Anliegen der kleinen Betriebe stützen?

Dank der grossen Vielfalt an Mitgliederbetrieben vereinen wir viel Know-how unter unserem Dach. Solche Betriebe können vor allem vom Wissenstransfer profitieren und von diversen Anlässen, bei denen sie sich mit der Tourismusbranche austauschen können.

Das Qualitätsprogramm des Schweizer Tourismus-Verbands, eine Zertifizierung für Betriebe, wurde letztes Jahr eingestellt. Ihre Aufgaben verschieben sich also immer mehr weg von Inhalten hin zu Verwaltungsaufgaben.

Ich sehe uns eher als Drehscheibe für die Interessen unserer Mitglieder und die Koordination ihrer Anliegen in Politik und Öffentlichkeit. Es ist klar, dass unsere Mitglieder ihren eigenen Bereich detaillierter kennen als wir, aber genau in der übergeordneten Abstimmung und Verknüpfung liegt unsere Berechtigung als Dachverband. Diese Koordinationsaufgabe ist entscheidend, will die Branche auch unter erschwerten Bedingungen Fortschritte erzielen.

Ich sehe uns als Drehscheibe für die Interessen unserer Mitglieder und die Koordination ihrer Anliegen in Politik und Öffentlichkeit.

Wo können Sie noch inhaltlich gestalten?

Wir engagieren uns aktiv in der Tourismuspolitik, klassifizieren über 25 000 Ferienwohnungen und vergeben auch die Labels Family- und Wellness-Destination. Ausserdem bieten wir eine Ausbildung als Gästebetreuer mit eidgenössischem Fachausweis an. Aktuell sind wir gemeinsam mit unseren Kernmitgliedern daran, ein Kompetenzzentrum für Nachhaltigkeit unter dem Dach des STV aufzubauen.

Wie sieht dieses Projekt konkret aus?

Die Tourismusbranche hat ein gemeinsames Commitment gefasst, sich künftig für Nachhaltigkeit zu engagieren. Eine Bedürfnisanalyse, die wir in Auftrag gegeben haben, hat die Wichtigkeit einer solchen Anlaufstelle unterstrichen. Das Kompetenzzentrum soll unter anderem Swisstainable, das Nachhaltigkeitsprogramm des Schweizer Tourismus, weiterentwickeln. Mittelfristig soll es auch ermöglichen, Nachhaltigkeit im Tourismus zu messen und zu vergleichen.

Wo liegen die aktuellen Herausforderungen?

Im Moment geht es darum, für den Tourismus Recovery-Massnahmen bereitzustellen. Dazu gehört auch ein Impulsprogramm, das die Investitions- und Wettbewerbsfähigkeit des Tourismussektors sicherstellen soll. Zudem wird es für den Sektor immer schwieriger, qualifiziertes Personal zu finden. Gerade deshalb bieten wir die Ausbildung zum Gästebetreuer an. Auch der Klimawandel hat seine Auswirkungen, sowohl auf den Städte- wie den Bergtourismus. Mit dem Aufbau des Kompetenzzentrums Nachhaltigkeit nehmen wir diese Herausforderung ernst.

Mir geht es primär darum, den Schwung mitzunehmen, den man innerhalb der Branche derzeit überall wahrnimmt.

Das Impulsprogramm wurde gerade von der Wirtschaftskommission des Nationalrates abgelehnt. Was sagen Sie dazu?

Es ist bedauerlich, dass die Wirtschaftskommission des Nationalrates ihrer Schwesterkommission nicht gefolgt ist. Wir sind aber hoffnungsvoll, in der Herbstsession im Nationalrat überzeugend aufzeigen zu können, weshalb dieses Programm zum jetzigen Zeitpunkt so wichtig ist. Das Impulsprogramm ist nötig, um die Investitionsfähigkeit des Schweizer Tourismus zu erhalten und weiterhin den qualitativ hochwertigen Tourismus anbieten zu können, den die Gäste in der Schweiz so schätzen.

Am 20. August fand in Lausanne die Generalversammlung des Schweizer Tourismus-Verbands (STV) statt. Dabei stand ein neues Gemeinschaftsprojekt im Fokus: Im Frühjahr 2022 will die Tourismusbranche ein nationales «Kompetenzzentrum Nachhaltigkeit» aufbauen. Ausserdem wurden die Tourismusleitlinien 2021–2025 vorgestellt, die auf fünf Handlungsfeldern basieren: Nachhaltigkeit, Qualität, Innovation, Infrastruktur und Digitalisierung.
stv-fst.ch/leitlinien

Unsere Nachbarländer haben im Gastgewerbe und bei Veranstaltungen bereits die 3G-Regel eingeführt: getestet, genesen, geimpft. Wie stellt sich der Schweizer Tourismus-Verband dazu?

Im internationalen Reiseverkehr sowie bei Grossveranstaltungen und in Clubs ist der Einsatz des Covid-Zertifikates sinnvoll. In Restaurations- und Beherbergungsbetrieben funktionieren die Schutzkonzepte, und es ist bisher zu keiner Häufung von Ansteckungen gekommen. Entsprechend scheint uns in diesem Bereich die 3G-Regel zum jetzigen Zeitpunkt nicht notwendig. Natürlich kann es sein, dass die Massnahmen aus epidemiologischen Gründen wieder verschärft werden müssen, wobei es immer gilt, mit Augenmass zu handeln.

Man hat Sie als Vertreter der jungen Generation geholt, der frischen Wind in den STV bringen soll. Was werden Sie entstauben?

Mir geht es primär darum, den Schwung mitzunehmen, den man innerhalb der Branche derzeit überall wahrnimmt. Auch wenn das Umfeld aufgrund der Pandemie schwieriger geworden ist, ist die Branche enger zusammengerückt. Es ist spürbar, dass man neue Herausforderungen wie die vermehrte Nachfrage nach nachhaltigem Tourismus gemeinsam angehen möchte. Wir wollen unseren Mitgliedern bei diesen Aufgaben zur Seite stehen und sie auch unterstützen, wenn sie beispielsweise neue Herangehensweisen ausprobieren.

Woran soll man Sie in den nächsten Jahren messen?

Mein Anspruch ist, den Schweizer Tourismus in seiner Vielfalt zu stärken und die Synergien in der Branche für alle nutzbar zu machen. Entscheidend wird sein, dass wir die Interessen unserer Mitglieder mit einer starken Stimme vertreten und so erreichen können, dass man den Schweizer Tourismus in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung wahrnimmt.

Lucie Machac