Am dritten Juniwochenende pilgerten 22'000 Festivalfans an den Wiler Weier im st.-gallischen Fürstenland. «Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass es so viele sein würden», freut sich Marc Bislin, Medienverantwortlicher des idyllischen Open Airs «Rock am Weier». Der letzte Rekord liegt vier Jahre zurück: 17'000 besuchten damals den kostenfreien Event.
Ähnlich euphorisch klang es am darauffolgenden Wochenende aus dem südlichen Kantonsteil: Das 42. Quellrock Open Air in Bad Ragaz war «bis auf den letzten Platz» ausgebucht. Eine weitere Woche später wummerten nach drei Jahren erstmals die Bässe wieder durchs Sittertobel: 110'000 Besucherinnen und Besucher tanzten, klatschten und sangen mit. Reguläre Mehrtagespässe gab es seit Monaten keine mehr. Nach der Ankündigung des Line-up im August 2021 sei die Buchungslust bis Ende Jahr zurückhaltend geblieben, sagt Sprecherin Nora Fuchs. «Doch die Aussichten auf Lockerungen im Februar sowie die Lust, wieder einmal ein Festival zu erleben, haben sich auf den Ticketverkauf ausgewirkt.» Anfang März waren mit den Massnahmen auch die Tickets weg.
Kaufverhalten wie vor der Pandemie
Nimmt man die Ostschweizer Auftakt-Trilogie als Seismografen für die ganze Schweiz, stehen die Zeichen für eine erfolgreiche Festivalsaison mehr als gut. Beim Berner Gurtenfestival registrierte man gemäss Sprecherin Lena Fischer «ein Kaufverhalten wie vor der Pandemie», mehr noch: «Wir haben den Vorverkauf später als sonst gestartet und somit im selben Zeitraum mehr Tickets verkauft.»
Auch beim Basel Tattoo war das Buchungsverhalten vergleichbar mit den Jahren 2018 und 2019, stellt PR- und Sponsoring-Manager Andreas Kurz fest. Zwar hatte er nach dem Unterbruch zu Beginn mit einer höheren Nachfrage gerechnet. Aber: «Die Tendenz zu kurzfristigen Buchungen war bereits vor Corona spürbar, das bestätigt auch unser Partner Ticketcorner.» Bei Ticketcorner nimmt man «eine äusserst positive Stimmung beim Festivalpublikum» wahr. «Die Vorverkäufe laufen gut», sagt der Medienverantwortliche Stefan Epli.
Alles braucht wegen fehlender Routine mehr Energie und Zeit.
Lena Fischer, Mediensprecherin Gurtenfestival
Kann die Branche nach zwei Jahren Unsicherheit jetzt also aufatmen? Jein. «Weil viele Konzerte und Veranstaltungen nun nachgeholt werden, führt das zu einer beispiellosen Dichte des Angebotes», schreibt Stefan Breitenmoser, Geschäftsführer der Swiss Music Promoters Association (SMPA), in einer Stellungnahme.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Zählt man die Events auf der Liste des grössten Schweizer Veranstalters Gadget abc Productions, kommt manauf über 200 Konzerte bis Ende September. Insgesamt 10 Millionen Tickets sind im Sommer zu haben. So ausgehungert das Konzertpublikum auch sein mag: Ist dieses Menü nicht zu deftig? «Ich hoffe natürlich, dass es gut kommt. Aber ich habe da auch meine Fragezeichen», sagte Veranstalter-Urgestein André Béchir gegenüber dem «St. Galler Tagblatt.»
Vermutlich zu Recht. «Kleinere Festivals geraten wegen des grossen Angebots unter Druck», sagt Stefan Breitenmoser. Jonatan Niedrig vom Verband Schweizer Musikclubs und Festivals hat einige Beispiele zur Hand, die einen «eher schwierigen Vorverkauf» meldeten: die Musikfestwochen Winterthur, das Festival Belluard in Fribourg (das in früheren Jahren immer rasch ausverkauft war) oder das Figura Theaterfestival in Baden. «Eher schwierig» sind neben dem Konkurrenzdruck diesen Sommer auch die Engpässe beim Personal und Material – und die fehlende Vorlaufzeit. Noch bis im Februar war ungewiss, ob und in welcher Form Anlässe überhaupt stattfinden werden. «Wir konnten die Planung nicht wie gewohnt im Herbst aufnehmen, das war eine der grössten Herausforderungen für das Basel Tattoo», sagt Andreas Kurz.
Nach zwei Jahren Pause braucht alles mehr Zeit
In St. Gallen gestaltete sich die Suche nach den 4000 Volunteers aufwändiger als in anderen Jahren. Und das benötigte Personal für alle Bereiche von Sicherheit über Gastro bis Zeltbau war erst eine Woche vor Festivalstart komplett. Personalsuche und Materialbeschaffung hielten auch das Gurtenfestival-Team auf Trab. Zudem machte sich die fehlende Routine nach zwei Jahren Pause bemerkbar: «Alles brauchte mehr Energie und Zeit», sagt Lena Fischer.
Kann man dennoch wieder von Normalität sprechen? Stefan Breitenmoser verneint. Zu viele Fragen blieben offen – jene nach dem Unterstützungs- und Entschädigungsbedarf nach dem Wegfall der Massnahmen etwa. «Die Kulturbranche wird frühestens im Sommer 2023 in der Normalität angelangt sein.» Bis dahin müsse es das Ziel bleiben, die Kultur in der Schweiz trotz Schwierigkeiten zu erhalten. Etwas, was bis anhin erfreulich gut gelungen sei.
Übernachtung: Vom Festivalgelände ins Hotel
Schlammgallen hin, Regen her: Noch vor 15 Jahren war das Übernachten im Zelt im Sittertobel für eingefleischte Open-Air-St.-Gallen-Fans sakrosankt. Heute schätzen Festivalgäste nach dem Feiern auf dem Feld eine eigene Dusche und ein bequemes Bett. 2019 hat gemäss Mediensprecherin Nora Fuchs nur noch die Hälfte auf dem Gelände gezeltet – davon profitieren die Hotels in der Stadt und Region: «Die 3- und 4-Sterne-Betriebe sind über diese Tage ausgebucht», sagt Tobias Treichler, Vizedirektor von St. Gallen-Bodensee Tourismus. Seit einem Jahrzehnt sei die Auslastung in den Hotels «sehr zufriedenstellend».
Jörgen F. Kuhn, diplomierter Hotelier/Restaurateur im 3-Sterne-Hotel one66 in St. Gallen-Winkeln, bestätigt das: «Unser Haus ist seit Jahren während der Open-Air-Zeit vollständig mit Festival-Stammgästen belegt, und zwar von Mittwoch bis Sonntag.» Die Gründe ortet Kuhn nicht nur in den zehn Minuten Gehdistanz zum Gelände: «Wir machen es den Festivalbesuchenden so einfach wie möglich: Dazu gehören das 24-Stunden-Self-Check-in per Smartphone oder das Frühstücksbuffet für Nachtschwärmer. Ausserdem versorgen wir die Stammgäste das ganze Jahr über mit Open- Air-News.» Kuhn beobachtet schon länger ein verändertes Konsumverhalten: «Man besucht weniger, aber ausgesuchte Konzerte und gönnt sich dafür den Komfort eines Hotels.»
Beliebter Campingplatz
Auch die Parahotellerie profitiert von den Festivals: Der Camping Eichholz in Bern zum Beispiel ist während des Gurtenfestivals zuverlässig ausgebucht, obwohl auch das Gurtenfestival mit der Sleeping Zone einen eigenen Zeltplatz anbietet. 2019 generierte das Eichholz über 5000 Übernachtungen in vier Tagen. Dieses Jahr hat der Camping die Zeltwiese wieder um 20'000 Quadratmeter erweitert sowie die Sanitäranlagen aufgestockt. Logieren im Hotel bleibt ebenfalls begehrt: «Die meisten Hotels haben eine sehr gute Auslastung bereits on the books, eine Veränderung gegenüber 2019 ist kaum bis gar nicht vorhanden», sagt Corina Gilgen, Präsidentin HotellerieSuisse Bern + Mittelland.
Zurück nach St. Gallen. Dort scheint die Lust am Campieren auf dem Gelände nach der Pandemie wieder zugenommen zu haben: Für über 10'000 Zelte wurde ein Depot gelöst, eine markante Zunahme gegenüber 2019. Ob es am hohen Anteil junger Besucher liegt, der heuer registriert wurde?