Die KG Gastrokultur sorgt in und um Bern immer wieder mit ungewöhnlichen Anlässen, Ideen und Ansätzen für Gesprächsstoff. Wir haben uns mit dem Co-Geschäftsführer des Gastrounternehmens, Michel Gygax, über Trends wie Farm to Table und No-Food-Waste unterhalten. Und mit ihm über die disruptive Kraft der Pandemie für die Branche gesprochen.
Michel Gygax, was hat die Pandemie bei Ihnen und Ihrer Gastrogruppe ausgelöst?
Bei mir selber zuerst einmal Ängste. Interessanterweise hat sie mir aber auch Ängste genommen. Denn zum ersten Mal habe ich mich so ganz bewusst mit dem Was-wäre-wenn auseinandergesetzt. Dabei habe ich realisiert, dass Scheitern kein Weltuntergang sein muss. Ich habe mir gesagt: Wenn das hier den Bach runtergehen sollte, fange ich halt noch einmal neu an. Ich habe aber auch rasch gemerkt, dass wir finanziell – auch dank der Versicherung – mit einem blauen Auge davonkommen werden.
Und die Folgen für den Betrieb?
Wir haben die Zeit genutzt, um unsere Organisationsstruktur zu hinterfragen. Und haben beschlossen, die Betriebsleiterinnen und -leiter in eine Art erweiterte Geschäftsleitung zu integrieren. Davon, dass wir ihnen mehr Freiheiten und Verantwortung übertragen, erhoffen wir uns einen Mehrwert für die ganze Gruppe. Diese erweiterte GL soll so etwas wie unser Kreativpool werden.
Vom Bank-Lehrling zum umtriebigen Gastronomen
Michel Gygax ist Mitglied der vierköpfigen Geschäftsleitung der KG Gastrokultur. Die 2007 gegründete Berner Gastrogruppe betreibt in der Stadt und der Agglomerationsgemeinde Köniz sechs Gastronomiebetriebe sowie eine eigene Weinhandlung. Das Unternehmen ist besonders für seine Anlässe bekannt – wie «Bier vs Wein» und «La Wy est belle». Es beschäftigt 60 Angestellte.
Bevor Gygax die Gruppe mitgründete, war der Quereinsteiger als Mitgründer zehn Jahre Geschäftsführer des Kulturlokals Bären Buchsi in Münchenbuchsee BE. 2019 hat er mit Nationalrätin Aline Trede (Grüne) den Gewerbeverein gegründet – einen nationalen Verein für nachhaltig wirtschaftende Unternehmen. Zudem ist er Co-Präsident von Slow Food Bern.
Das klingt trotz Pandemie ziemlich stressarm.
Wir sind nie dem Aktivismus verfallen. Im ersten Lockdown haben wir mit Take-away experimentiert – aber rasch gemerkt, dass uns erstens andere längst zuvorgekommen sind und zweitens unsere Stärken im direkten Kontakt mit den Gästen liegen.
Die KG Gastrokultur gilt als ausgesprochen innovativ und kreativ. Ich hätte gedacht, Sie zaubern in dieser Zeit völlig neue Konzepte aus dem Hut.
Wir haben tatsächlich ein neues Projekt, das eine Art Antwort auf die Pandemie ist. Viele Leute sind in dieser Zeit einsam und waren es früher vielleicht auch schon. Wir wollen die Gastronomie nutzen, um die Leute wieder zusammenzubringen. «Essen mit» heisst das Konzept, das im Herbst starten soll. Eine Art moderner Stammtisch. Wir laden eine interessante Persönlichkeit ein – vielleicht mal einen Journalisten oder jemanden aus der Politik oder der Kultur. Diese setzt sich für eine Mahlzeit in einem unserer Restaurants an einen Tisch, und fremde Leute können sich anmelden, um sich zu ihr zu setzen, mit ihr zu essen und sich mit ihr auszutauschen. Die einzige Bedingung: Es dürfen sich immer nur Einzelpersonen dazusetzen.
Wie steht es um Ihr Farm-to-Table-Projekt? Das mussten Sie wegen der Pandemie offenbar auch anpassen.
Ja, dieses Projekt haben wir ausgerechnet 2020 als Pilot lanciert. Aber von vorne: Wir führen in Köniz das Restaurant Schloss. Und zum historischen Schloss gehört auch ein wunderschöner Schlossgarten, der über viele Jahre von einem Ehepaar gepflegt wurde. Als es ihnen zu viel wurde, wollte die Gemeinde den Garten aufheben. Davon haben wir erfahren und eine Chance erkannt. Zuerst hatten wir vor, dass unser Biogemüselieferant den Garten in unserem Auftrag pflegt. Aber wegen des Lockdown der Gastronomie hatte Philippe Riem plötzlich mit seinem eigenen Betrieb und dem Vertrieb seiner Produkte alle Hände voll zu tun.
Sie standen also mit einem riesigen Garten, aber ohne Bauer da?
Genau. Zwischenzeitlich haben wir ihn selber gepflegt. Aber wir haben schnell gemerkt, dass das längerfristig keine Option ist. Das Team hatte a) nicht die Zeit dafür. Und b) sind die Löhne in der Gastronomie zu hoch, damit rentabel Landwirtschaft betrieben werden kann. Zumal der Garten enorm arbeitsintensiv ist, weil man nicht einfach mit der Maschine durchfahren kann. Also musste eine neue Lösung her: Wir haben einen gemeinnützigen Verein gegründet, der die Trägerschaft für den Garten übernommen hat. So kann der Garten beispielsweise zu Schulungszwecken oder für Integrationsprojekte genutzt werden. Das ermöglicht es, finanzielle Unterstützung von Stiftungen zu bekommen. Gleichzeitig muss sich niemand darum kümmern, was mit der Ernte passiert, weil wir die für unsere Betriebe kaufen. Das entspricht genau unserer Vorstellung von Nachhaltigkeit: Das Projekt ist sozial, ökologisch, ökonomisch und kulturell wertvoll. Da wir Mitglied im Verein sind, können wir zudem mitreden, was im Garten gepflanzt wird. So wird er für uns zur Experimentierfläche, auf der auch mal Ungewöhnliches angebaut werden kann.
Zwar haben Restaurants aufgehört. Aber selten nur wegen Corona. Oft waren andere Faktoren im Spiel.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Pandemie die Gastrobranche nicht wirklich in ihren Grundfesten erschüttert hat. Hat sie am Ende doch nicht diese disruptive Kraft, die ihr viele zuschreiben?
In Bern haben zwar mehrere Restaurants aufgehört. Aber selten nur wegen Corona. Oft waren andere Faktoren im Spiel wie Lärmbeschwerden, oder dass es schon länger nicht mehr so gut lief.
Und über die betriebliche Ebene hinaus: Verändert Corona die Art, wie Gastronomie und Kulinarik stattfinden?
Die Gastronomie ist ein Spiegel der Gesellschaft. Sie nimmt auf, was sich in der Gesellschaft verändert. Der ganz grosse Wandel hat in meinen Augen vor rund 20 Jahren eingesetzt. Als sich die Männer immer stärker im Haushalt und in der Familie zu engagieren begannen. Damit hat sich auch das Vereinswesen verändert, was zum Beispiel dazu geführt hat, dass Einrichtungen wie der Stammtisch vielerorts praktisch ausgestorben sind. Die Gastronomie hat sich zentralisiert – sie findet viel mehr im städtischen Raum und an den Wochenenden statt. Früher hatte man einfach «seine Beiz». Heute ist es zu einem Statussymbol geworden, wo man isst. Man macht Fotos vom Essen und zeigt sie stolz den Freunden. Diese Veränderungen wird die Pandemie noch beschleunigen.
Inwiefern hat Corona den Stellenwert der Gastronomie verändert?
Die Rückmeldungen, die ich aus meinem Umfeld erhalte, zeigen mir, dass der Stellenwert der Branche gestiegen ist. Freunde, die sonst kaum je ins Restaurant gehen, sagten mir im Lockdown auf ein-mal, sie würden den Restaurantbesuch vermissen. Die kamen nach der Wiedereröffnung nicht nur aus Solidarität, sondern auch aus einem eigenen Bedürfnis nach Gastronomie, Geselligkeit und sozialen Kontakten. Insofern hat die Pandemie der Branche ihre Systemrelevanz aufgezeigt. Ich hoffe, dass dieser neue Stellenwert auch bei den Jungen etwas auslöst, dass sie sich nun vielleicht über-legen, Köchin oder Koch zu werden. Ich auf jeden Fall bedaure, dass ich damals eine Banklehre gemacht habe und nicht Koch gelernt habe. Handwerkliche Fähig-keiten nimmt dir niemand je wieder weg.
Gerade bei gut gebildeten, urbanen Leuten hat die Kulinarik enorm an Bedeutung gewonnen. Sie ernähren sich bewusster und lassen es sich etwas kosten. Das ist genau Ihr Zielpublikum, oder?
Das ist ein Teil unseres Zielpublikums. Wir wollen aber keine exklusive Gastronomie, sondern allen etwas bieten. Deshalb haben etwa alle Restaurants ein Überraschungsmenü auf der Karte zu einem günstigen Preis – eine Carte blanche für die Küche. Die Küche kann so frei entscheiden, was sie schicken will. Hat sie gerade alle Hände voll zu tun, schickt sie das Tagesmenü. Hat sie Zeit und noch ein paar Reste vom Vortag, kann sie daraus etwas Neues zaubern. Das ist Teil unseres Konzepts gegen Food-Waste.
Produzenten sind wie die Trainer im Fussball: immer die Ersten, die dran glauben müssen.
Sie pflegen zu vielen Lieferanten eine persönliche Beziehung. Wie geht es ihnen während der Pandemie?
Die gehen oft vergessen. Dabei hat es sie besonders hart getroffen. Produzenten sind wie die Trainer im Fussball: immer die Ersten, die dran glauben müssen. Ich habe gerade heute Morgen mit einer Winzerin aus Spanien telefoniert. Normalerweise bestellen wir bei ihr im Jahr um die 3000 Flaschen. Letztes Jahr null. Und für dieses Jahr musste ich ihr sagen: Ich kann dir noch nicht garantieren, wie viele Flaschen es sein werden.
Mischa Stünzi