Grösser könnte die Spannweite nicht sein: «Reisen kann zu einem besseren Verständnis für andere Kulturen und Lebensweisen beitragen», sagt Luís Araújo, der ehemalige Präsident der Europäischen Reisekommission. «Es macht Gesellschaften toleranter.» Vor den negativen Folgen des Tourismus hingegen «verschliesst man bis heute vielerorts die Augen», meint der ETH-Professor für Kliamphysik Reto Knutti. [RELATED]
Die zwei Aussagen sind Gesprächen mit 20 Fachleuten im Buch «Unterwegs – Begegnungen und Reflexionen zum Tourismus» entnommen. Tatsache ist, dass der Tourismus weltweit jährliche Einnahmen von fast 1500 Milliarden oder 1,5 Billionen Dollar generiert. Immer mehr Menschen sind unterwegs: 2011 kam erstmals mehr als eine Milliarde Reisende irgendwo an; 2019 waren es 1,46 Milliarden. Für 2030 erwartet man nicht weniger als zwei Milliarden Touristen.
Wenn zwei Fachleute wie Martin Nydegger und Hansruedi Müller ein 400 Seiten starkes Buch schreiben, so darf man eine differenzierte Darstellung erwarten. Und man wird nicht enttäuscht.
‹Unterwegs› bietet faszinierende Einblicke in alle möglichen Facetten des Reisens.
Artur K. Vogel
Prominenten aus Hotellerie und Parahotellerie
Aus der Hotellerie und Parahotellerie kommen einige Prominente zu Wort. Andrea Scherz zum Beispiel erzählt, wie das Luxushotel Gstaad Palace, das er in dritter Generation führt, Stürme und Krisen überlebte und sich immer wieder neu erfinden musste. Samih Sawiris, der Andermatt auf die internationale Tourismuskarte gesetzt hat, betrachtet Wachstum zwar als unvermeidlich, weil Wohlstand nur mit Wachstum erhalten werden könne. Doch er plädiert für Sensibilität und dafür, dass die Schweiz die hohen Qualitätsstandards beibehält.
Reisen kann, wie gesagt, das Verständnis für andere Kulturen wecken. Für Janine Bunte, CEO der Schweizer Jugendherbergen, beginnt die Diversität allerdings schon in den Tourismusunternehmungen selber: Es gehe dabei nicht nur um Kompetenzen, sondern auch um Weltanschauungen und Erfahrungen.
Um Risiken zu minimieren, wird Diversität auch im Gästemix angestrebt. Für den Incoming-Markt erachtet Schweiz Tourismus einen Mix von 45 Prozent Gästen aus dem Inland, 35 Prozent aus dem übrigen Europa und 20 Prozent aus den Fernmärkten als optimal. Die Fachleute sind sich aber einig, dass ein optimaler Kundenmix nicht vom Himmel fällt. Er ist vielmehr Resultat von sorgfältiger, gezielter Marktbearbeitung.
Kein Wintersport unter 1500 Metern
Vielerorts ist Umdenken gefragt. Ko-Autor Nydegger und der bekannte Klimaforscher Knutti sind sich einig, dass der Klimawandel lange verdrängt worden sei. Knutti nennt als Beispiel tief gelegene Ferienorte, die nicht damit rechnen dürfen, auch künftig genug Schnee oder auch nur genug tiefe Temperaturen für künstliche Beschneiung zu haben. «Unterhalb von 1500 Metern sollte nicht mehr in den Wintersport investiert werden», meint Knutti, der in Gstaad (1060 Meter über Meer) aufgewachsen ist.
Natürlich werde es in Orten wie Zermatt oder dem Engadin noch lange genug Schnee geben, bestätigt Nydegger. «Aber ein ansehnlicher Teil unserer Winterdestinationen und Bergbahnen kommen nicht drum herum, sich mit Alternativen auseinanderzusetzen.»
Tourismus fördert die Entwicklung
Wer beim Reisen wegen seines ökologischen Fussabdrucks ein schlechtes Gewissen hat, darf gleichzeitig ein gutes Gewissen für seinen Beitrag an die Entwicklung der Menschheit haben. Die Milliarden aus dem Tourismus tragen zu verbesserten Lebensbedingungen bei; Hunger und Armut nehmen gemäss den Millenniumszielen der UNO tendenziell ab. Laut den Autoren schafft der Tourismus in vielen Regionen Arbeitsplätze für Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen; er fördert das Wirtschaftswachstum und den Ausbau der Infrastruktur, der auch Einheimischen zugutekommt.
Hansruedi Müller ruft uns aber auf, achtsam und besonnen zu reisen: «Die touristische Entwicklung wird uns nur dann gelingen, wenn wir nicht nur gemeinsam unterwegs sind, sondern jeder und jede von uns Verantwortung trägt, sich engagiert und einen persönlichen Beitrag leistet».
«Unterwegs» – das Buch
Martin Nydegger, Hansruedi Müller, «Unterwegs – Begegnungen und Reflexionen zum Tourismus», Weber Verlag Thun 2024, 400 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-03818-539-0.
Kommentar von Maria Küng
«‹Unterwegs› verdient für Inhalt und Gestaltung einen Preis»
Ich habe erst Zweidrittel vom Unterwegs zurückgelegt, jedoch eine genug grosse Strecke, um Martin Nydegger von ganzem Herzen zu diesem Werk zu gratulieren. Es ist wirklich herausragend. Ich nenne es ein leibhaftiges Buch, weil es dem so schwer zu beschreibenden Wesen Tourismus eine ebenso gut fassbare wie faszinierende Gestalt verleiht.
Für mich das beste Tourismus-Buch. Wer fragt, was ist, was kann, was soll der Tourismus findet sehr interessante Antwort und überaus dienliche Wegbeschreibung für die nächste Etappe. «Unterwegs» – prima Titel – verdient für Inhalt und Gestaltung einen Preis und vor allem eine sehr grosse Leserschaft. Mir macht es grossen Spass und es aktiviert einige graue Zellen.
Ein Wermutstropfen: Es ist so schade, gingen Geist und Sinn etwas aussen vor. Resilienz-Widerstehen-Bestehen ohne Verankerung, Nachhaltigkeit ohne Schöpfung, Work-Life-Balance ohne Sinn und Pflicht, Werte Europas ohne Geist, Miteinander ohne Achtsamkeit? Es würde sich doch eine philosophische Grösse gefunden haben, um am Schluss darüber zu sprechen, weshalb der Tourismus mehr sein kann als ein erfolgreicher Wirtschaftszweig und die Ansätze dazu, welche sich in Beiträgen durchaus finden lassen, zu vertiefen. Es hätte alle Beiträge gewichtet – meine ich.
Als Gesprächsort hätte sich doch der Seelensteg in Heiligkreuz Entlebuch angeboten. Berührt von der Spiritualität des Ortes würde man sich vielleicht noch ein paar Gedanken über die Seelenlosigkeit des Wirtschaftswachstums erlaubt haben.
Aber, wie gesagt, es ist ein Tropfen, der mein Lob nicht einschränken soll.
Maria Küng war langjährige stellvertretende Chefredaktorin der htr hotelrevue.
Artur K. Vogel