Yvonne Pröbstle, Anfang November sprechen Sie am diesjährigen VSTM-Seminar zum Thema «Kultur ist der neue Schnee». Ist das nicht eine etwas gewagte These?

Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, musste ich schmunzeln. Die These birgt sicherlich das Potenzial für kontroverse Diskussionen. Das ist einer der Gründe, warum ich für das Seminar zugesagt habe.

Yvonne Pröbstle (*1982) ist seit 2013 Geschäftsführerin der Kulturgold GmbH in Stuttgart. Die Historikerin und Kulturmanagerin promovierte am Ludwigsburger Institut für Kulturmanagement mit einer empirischen Arbeit zur kulturtouristischen Nachfrage. Heute berät und begleitet sie Städte, Regionen und Kultureinrichtungen bei der Entwicklung und Implementierung von kulturtouristischen Strategien und Massnahmen. Sie ist darüber hinaus als Dozentin, Moderatorin und Referentin tätig und publiziert regelmässig. Zuletzt ist von ihr ein Leitfaden zum Thema Kultur & Tourismus erschienen.
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Kann der Kulturtourismus tatsächlich dem Wintertourismus das Wasser reichen?

Wenn man sieht, was die Schweiz kulturell alles zu bieten hat, dann kann man diese Aussage durchaus unterschreiben. Bemerkenswert ist vor allem die Dichte der Angebote auf kleinstem Raum. Es gibt in der Schweiz über 1000 teils international bekannte Museen. Beispielsweise das Kunstmuseum Basel, das älteste öffentliche Museum Europas. Oder das Kunsthaus Zürich mit der Giacometti-Sammlung oder die Fondation Beyeler, die gerade bei uns hier im Süden Deutschlands immer wieder Grund für einen Tagesausflug ist. Viel zu bieten hat die Schweiz auch bei den Themen Architektur, Baukultur und Design. Die Schweiz ist in der glücklichen Situation, dass kaum je etwas durch Kriege zerstört wurde.

Diese kulturelle Dichte betrifft aber doch in erster Linie die Städte?

Das ist richtig, wobei auffällt, dass sich alpine und ländliche Regionen zunehmend auch mit Kulturangeboten zu positionieren versuchen. Neulich war ich auf einer Tagung im Kloster Fischingen TG. Solche Orte sind für Kulturtouristen interessant, denn die Nachfrage nach authentischen Angeboten nimmt zu. Natürlich stehen Städte bei Kulturtouristen grundsätzlich noch immer hoch im Kurs, aber Kulturtourismus ist längst kein Phänomen der Städte mehr.

Kann der Kulturtourismus auch punkto Wertschöpfung mit dem Wintertourismus mithalten?

Anders als im Wintertourismus sind Kunst und Kultur für das Gros der Kulturtouristen nicht der zentrale Reisetreiber, weshalb die beiden Tourismusarten schwer miteinander vergleichbar sind. Monetär ist Kultur besonders dann interessant, wenn wir über den kleinen Kreis der Kulturtouristen sprechen, für die Kultur der Hauptreisegrund ist. Sie sind oft auffällig einkommensstark und legen Wert auf Premiumangebote – und zwar nicht nur im Bereich der Kultur, sondern entlang der ganzen touristischen Leistungskette.

Der klassische Kulturreisende ist also ziemlich elitär?

Den Kulturreisenden gibt es nicht. Natürlich gibt es einen kleinen elitären Zirkel, der quasi in der goetheschen Bildungstradition verreist. Andererseits gibt es die Sightseeing- und Abhak-Touristen. Dies sind die beiden Pole. Dazwischen gibt viele verschiedene Typen von Kulturtouristen, die sich von leidenschaftlich bis punktuell für Kultur interessieren. Dieser Kreis der sogenannten Auch-Kulturtouristen, also jenen, die Kultur nicht zum primären Reiseanlass nehmen, aber sehr wohl vor Ort Kultur konsumieren, beinhaltet quantitativ betrachtet die grösste Zahl an Kulturtouristen.

Sie beraten unter anderem Destinationen, die sich kulturtouristisch stärker positionieren wollen. Was raten Sie diesen?

Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Allgemein lässt sich sagen: Kultur ist längst kein Geheimtipp mehr. Als Kulturdestination braucht man deshalb ein klares Profil. Kulturtouristen wollen in die lokale Kultur eintauchen, man spricht auch von «going local». Die meisten Touristiker wissen das – und trotzdem werben viele immer noch damit, dass ihre Destination ein besonders vielfältiges Kulturangebot bietet. Das manifestiert sich dann oft darin, dass eine Broschüre nach der anderen produziert wird, um alles abzudecken. Aber kulturelle Vielfalt ist kein Alleinstellungsmerkmal.

Warum tun sich viele Destinationen mit einer klaren Profilbildung schwer?

Profilbildung bedeutet, Schwerpunkte zu setzen. Angebote müssen hervorgehoben und thematisch gebündelt werden. Dabei ist weniger oft mehr. Aber wenn Touristiker versuchen, mit vier bis fünf potenziellen Reisetreibern – zum Beispiel den wichtigsten regionalen Kulturangeboten – Aufmerksamkeit zu erzeugen, dann entsteht schnell eine Abwehrhaltung bei den unerwähnten Kultureinrichtungen. Sie befürchten, zu kurz zu kommen. Aber diese Sorge ist unbegründet. Mit einem starken Narrativ und passenden Angeboten schafft eine Destination echte Reiseanlässe. Und ist der Gast erst einmal vor Ort, kann man ihn immer noch auf die ganze Vielfalt des kulturellen Angebots aufmerksam machen. Mut ist hier gefordert, in der Positionierung zunächst auf weniger zu setzen, um am Ende mehr zu erreichen. Das ist die Herausforderung, vor der jede Kulturdestination steht.

Es gibt also einen Konflikt zwischen den Kulturleistungsträgern und den Touristikvermarktern.

Das ist oft so, ja. Kulturschaffende sind keine Touristiker, andersherum gilt das genauso. Bei der Kommunikation ist sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt. Beide bedienen sich einer unterschiedlichen Sprache. Kulturschaffende stören sich an gewissen Marketingausdrücken, Touristiker vielleicht an der etwas blumigen Kultursprache.

Klingt, als hätte der Konflikt zwischen der «schöngeistigen» Kultur und dem «kapitalistischen» Tourismus auch eine ideologische Komponente.

Das Problem tritt sicherlich gelegentlich auf. Deswegen ist es so wichtig, dass man sich in den anderen hineinversetzen kann. Denken Sie beispielsweise an die Kulturmanager, die verantwortlich sind für Denkmäler oder baukulturelle Sehenswürdigkeiten. Die müssen häufig einen Spagat zwischen Nutzen und Schützen vollziehen: die Häuser für das Publikum öffnen und gleichzeitig Schäden an der historischen Substanz vermeiden. Nebenbei haben diese Einrichtungen häufig auch einen Bildungsauftrag. Das heisst, es genügt nicht, lediglich Besucher ins Haus zu locken, sondern es muss auch Vermittlungsarbeit geleistet werden. Diesen Vermittlungsgedanken halten die Kulturschaffenden sehr hoch. Man spricht in diesem Kontext auch von kultureller Bildung und Teilhabe.

Begriffe, mit denen Touristiker nur bedingt etwas anfangen können ...

Der Tourismus ist privatwirtschaftlich organisiert, sein Erfolg misst sich immer noch in Gästeankünften und Übernachtungen. Nicht umsonst sagt man: Marketing spricht den Konsumenten an, Vermittlung den Rezipienten. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung, aber aus dieser Polarisierung erwachsen Konflikte – obwohl sich beide Seiten Besucher beziehungsweise Gäste wünschen und somit ein gemeinsames Ziel haben.

Was ist die Lösung?

Beide Seiten müssen sich klarmachen: Erfolgreich sein kann nur derjenige, der kooperationsbereit ist. Das A und O ist tatsächlich Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation. Eine Möglichkeit ist, dass die Destination in ihren eigenen Reihen einen Ansprechpartner mit touristischen Kompetenzen einsetzt, der vielleicht selbst aus der Kultur kommt und in der Lage ist, die Kultursprache zu sprechen. Diese Schnittstellenmanager sind enorm wichtig, um zwischen beiden Seiten zu übersetzen.

Tourismusorganisationen sollten sich in Zukunft also einen Kulturattaché zulegen?

In Deutschland gibt es diverse Destinationen, die dieses Modell eingeführt haben und gute Erfahrungen damit machen. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten. In einem Fall hat eine Destination ein Sounding Board gegründet: Alle vier Wochen lädt sie alle wichtigen Kulturvertreter der Region ein, um gemeinsam die kulturtouristische Strategie weiterzuentwickeln.

Beobachten Sie eigentlich Trends im Kulturtourismus?

Durchaus. Das Wachstum des Kulturtourismus in den vergangenen Jahren hat dazu geführt, dass wir es zunehmend mit kulturerfahrenen Reisenden zu tun haben. Das hat zur Folge, dass die Erwartungshaltung wächst. Entsprechend differenziert sind heute auch die Angebote. Wir sprechen nicht mehr nur einfach von Kulturtourismus. Jetzt gibt es Kreativtourismus, Filmtourismus, Heritage Tourism, Industriekulturtourismus oder auch spirituellen Tourismus. Kulturtourismus hat inzwischen viele verschiedene Erscheinungsformen.

Wie steht es um den Kulturtourismus nach Corona?

Der italienische Journalist Marco d’Eramo antwortete einst in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» auf die Frage, wo man heute noch etwas Exotisches entdecken könne: «Das Exotische liegt in der Nähe.» Denn immer dort, wo Touristen auftreten, sind sie für andere eigentlich ein Beweis dafür, dass der jeweilige Ort seine Authentizität verloren hat oder dabei ist, sie zu verlieren. Das ist die Dialektik des Tourismus, wie sie bereits Hans Magnus Enzensberger in den 1950er-Jahren beschrieben hat: «Der Tourismus zerstört das, was er sucht, indem er es findet.»

Bitte etwas weniger abstrakt.

Schon lange vor Corona haben touristische Trendforscher ländlichen Destinationen eine rosige Zukunft vorausgesagt. Ländliche Räume werden neu entdeckt, weil wir plötzlich diesen Traum vom authentischen Reisen haben. Und auf dem Land können wir ihn erfüllen – ganz ohne Flugscham und lästige Overtourism-Erscheinungen. Möglichst nachhaltig eben, so, wie wir uns das heute vorstellen. Corona hat die Landlust unter den Touristen sicher zusätzlich angeheizt, aber sie war auch schon vor der Pandemie deutlich zu erkennen. Kulturtourismus findet deshalb nicht mehr nur in den Metropolen und Grossstädten statt, sondern vermehrt auch in kleineren Städten und auf dem Land. Dieser Trend dürfte sich weiter verstärken.

VSTM-Seminare 2020: Kultur – der neue Schnee der Schweiz
Vom 4. bis 7. November findet im Vienna House Zur Bleiche in Schaffhausen das diesjährige Management- & Vorstandsseminar des Verbands Schweizer Tourismusmanager (VSTM) statt. Schwerpunktthemen sind der Kulturtourismus sowie die Destinationsentwicklung. Moderiert werden die Seminare von Jürg Schmid. Mitglieder und Partnerorganisationen kommen in den Genuss eines ermässigten Teilnahmetarifs. Anmeldeschluss ist der 5. Oktober.
vstm.ch/seminar2020