Eine schrille Stimme schreit in breitem Hindi so energisch durch den Lautsprecher meines iPhones, dass unser Sitznachbar im Kochuveli Express von Bangalore nach Alappuzha hellhörig wird. Mit einem Lächeln nimmt er mir das Handy aus der Hand und erklärt dem Anrufer, dass er das online vorbestellte Hühner-Biryani am nächsten Bahnhof im Wagen 15 durchs Fenster in der Wagenmitte reichen soll. Eine Szene, die den Mikrokosmos in Indiens Zugwaggons ziemlich gut beschreibt. Das Eis ist gebrochen, und unser Sitznachbar redet fortan so lange auf uns ein, bis die Sitze hochgeklappt und die Laken ausgebreitet werden.

Wir erleben Indiens Eisenbahnsystem stellvertretend für die Kontraste im Land. Getreu dem Motto der nationalen Bahn, «lifeline of a nation», scheint die ganze Nation in all ihren Facetten auf dem Bahnsteig zusammenzukommen. Inmitten dieses Schmelztiegels gesellschaftlicher Klassen sorgen etablierte Systeme für etwas Ordnung. So gibt es verschiedene Warteräume für «Upperclass»- und «Lowerclass»-Reisende. Während sich auf den Plastikstühlen Ersterer westlich gekleidete Leute mit Bollywood-Filmen auf ihren Handys die Zeit vertreiben, findet man in Letzteren eine Unmenge von Menschen, welche barfuss kreuz und quer auf dem Boden verteilt dösen. Bemerkenswert: Mit Duschen sind beide Varianten ausgestattet.

Insbesondere ‹Second Seating› gleicht einem überfüllten Hühnerkäfig. Die Reise kostet dafür nur zwei Franken.

Das System erfährt im Zug seine Fortsetzung. Leute aus dem «Upperclass»-Warteraum steigen in einer der insgesamt vier oberen, allesamt klimatisierten, Zugklassen ein. Für den Menschenklüngel aus der «Lowerclass» sind die drei unteren Klassen reserviert. Insbesondere «Second Seating» gleicht dabei einem überfüllten Hühnerkäfig. Eine Erklärung, wieso die Menschen diesen krassen Unterschied punkto Komfort stoisch in Kauf nehmen, liegt in der Preisdifferenz. Während uns die 16-stündige Reise in der zweithöchsten Klasse rund 20 Franken kostet, gibt es diese auch für 2 Franken. Eine «lifeline» für jedes Budget, natürlich mit entsprechenden Komforteinschränkungen. 

Highlight
Züge sind oft ausgebucht. Daher wurde eine Ticketklasse namens «Tourist Quota» geschaffen, die nur für Ausländer buchbar ist.

Missing
Es ist fast unmöglich, ohne Drittanbieter an Tickets zu kommen. Wer den komplizierten Registrationsprozess auf sich nimmt, sollte viel Zeit einplanen.

Aufgefallen
Uniformen sind in Indien Symbol sozialen Aufstiegs. Entsprechend stolz sind die Zugangestellten auf ihre Kleidung.

Auch digitaler Fortschritt und analoge Realität prallen ungebremst aufeinander. So wird man vor Abfahrt via E-Mail aufgefordert, opulentes Essen online vorzubestellen. Im Zug aber bieten unzählige fliegende Händler Köstlichkeiten zu Kleinstpreisen feil. Maximaler Orientierungssinn ist vor der Abfahrt gefragt. Zwar gibt es unzählige Apps, welche Abfahrtszeiten und Bahnsteig voraussagen. Doch stimmen diese selten. An den Bahnhöfen selbst sind digitale Hilfsmittel inexistent. Es braucht spitze Ohren, um das Gekrächze aus den Lautsprechern zu interpretieren, und gute Augen, um Wagennummern frühzeitig zu erspähen. Wehe dem, der auf der falschen Seite des Bahnsteigs wartet und bei Einfahrt mehrere Hundert Meter sprinten muss. Die Lebensadern Indiens sind sehr, sehr lang.

In diesem Sinne darf auch mal ein hoch auf die SBB-App, unser ÖV-Netz und die Abfahrtstafeln an Schweizer Bahnhöfen gesprochen werden. Es fehlt bloss noch die Möglichkeit, auf der Strecke Bern–Zürich das traditionelle Käsefondue bequem online vorbestellen zu können.

[IMG 2]Gemeinsam mit seiner Partnerin Lena-Maria Weber reist Patric Schönberg mit dem Rucksack ein Jahr um die Welt. Der ehemalige Leiter Kommunikation von HotellerieSuisse berichtet aus seiner persönlichen Perspektive über Dinge, die auffallend anders sind als bei uns. Die gesamte Reise auf Instagram: @losnescos