Als Co-Autorin der Studie «Personal- und Fachkräftemangel in Graubünden» stellte Brigitte Küng fest, dass im Jahr 2040 in Graubünden jede fünfte Arbeitsstelle unbesetzt bleiben wird. Im Gespräch zeigt die 43-Jährige Lösungen auf, wie Hoteliers gegen das Dilemma ankommen.

Frau Küng, laut Ihren Prognosen fehlen im Bündnerland im Jahr 2040 30 000 Vollzeiterwerbstätige.
Als ich die Zahlen selbst nachrechnete, schluckte ich leer. Jeder Fünfte auf dem Arbeitsmarkt fällt weg. Es sind Prognosen, diese Zahlen kann man immer in Zweifel ziehen. Ich kann versichern, dass die Thematik komplex ist und wir effektiv ein Nachwuchsproblem haben. Im Tourismuskanton Bündnerland bilden wir zurzeit nicht einmal mehr 40 Kochlehrlinge pro Jahrgang aus. Und das bei über 600 Hotels.

Wie kamen Sie auf diese Zahl?
Vergleichen wir die Anzahl der 0- bis 20-Jährigen mit der Anzahl Babyboomer, die in den kommenden 20 Jahren aus dem Arbeitsprozess ausscheiden, stellen wir fest, dass 60 000 Personen wegfallen und lediglich 35 000 junge Menschen hinzukommen. Das heisst: Jede fünfte Person fällt weg. Es spielen aber noch viele weitere Effekte mit. Im Berggebiet wandern beispielsweise zusätzlich viele junge Menschen in die Ballungszentren ab.

Weshalb kehren die jungen Leute nach dem Studium nicht zurück?
Wir haben viele Heimwehbündner, die in Zürich oder St. Gallen studieren und während der Ausbildung jedes Wochenende heimkehren. Aber: Jungen Berufsleuten erlaubt die Vielfalt der Jobs in der Stadt, sich zu entwickeln. So eine Vielfältigkeit können wir im Bündnerland nicht bieten. Dass man selbst einen guten Job findet, ist schon Glückssache. Dass dann der Partner auch noch einen findet, ist fast unmöglich. Deshalb bleiben die Jungen in der Stadt.

Das Bündnerland könnte Tech-affine Unternehmen ansiedeln?
Es ist uns in einzelnen Fällen gelungen, solche Firmen anzusiedeln. Graubünden bleibt aber ein Tourismuskanton, was Arbeitnehmenden beschränkte Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Ausnahmen bestätigen die Regel: Davos hat durch die Forschungsinstitute erreicht, dass ein deutlich höherer Anteil an wissensintensiven Jobs geschaffen wird. Dadurch entstand ein recht spannender Mix an Bewohnerinnen und Bewohnern.

Homeoffice und Telearbeit bieten neue Möglichkeiten …
Vor Corona wurde Telearbeit zwar diskutiert, aber selten umgesetzt. Sie ist tatsächlich eine grosse Chance für das Berggebiet. Wir wissen aber noch nicht, ob dadurch die Abwanderung sinkt. Neben dem gesellschaftlichen Trend zu Homeoffice sieht man nämlich auch die gegenteiligen Bewegungen: Leute arbeiten wieder gerne vor Ort.

Was sagen Studien zum Homeoffice-Effekt?
Es gibt viele Befragungen dazu, ob die Mitarbeitenden Telearbeitsformen annehmen. Die Signale sind positiv. Bei den Arbeitgebern auch. Diese müssen sich sowieso zusehends an den Wünschen der Arbeitnehmenden ausrichten. Solche Arbeitsmodelle können aber tatsächlich nur funktionieren, wenn Arbeitnehmer trotz Telearbeit Teil eines Teams werden können. Ob sich remotes Arbeiten aber tatsächlich durchsetzt und damit die Abwanderung gestoppt werden kann, ist noch nicht erforscht.

In der Studie sprechen Sie bewusst nicht mehr von Fachkräftemangel, sondern von Arbeitskraftmangel. Weshalb?
Das Wort Fachkräftemangel ist stark konnotiert mit dem Fachkräftemangel im Mint-Bereich, also bei Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Empirische Studien zeigten, dass nicht nur Mint-Berufe von einem Arbeitskräftemangel betroffen sind, sondern alle Berufsgattungen und Ausbildungsstufen. Wir haben nicht nur einen Mangel, sondern auch eine Überalterung.

Welche Auswirkungen hat der Arbeitskräftemangel auf den Tourismus?
Schon seit längerer Zeit ist es schwierig, Köche und Servicefachkräfte zu finden. Jetzt stehen wir auf der Schwelle, bei der Stellen dauerhaft unbesetzt bleiben. Laut einer Umfrage von HotellerieSuisse können momentan bis zu 10 Prozent der Stellen nicht mehr besetzt werden.

Wenn von Digitalisierung gesprochen wird, denkt man oft an futuristische Roboter, die das Servicepersonal ersetzen. Ein empfindlicher Punkt.

Die Branche muss also reagieren. Man könnte durch automatisierte Abläufe Personal sparen.
Das ist ein zentraler und spannender Punkt, der noch wenig diskutiert wird. Wenn von Digitalisierung gesprochen wird, denkt man oft an futuristische Roboter, die das Servicepersonal ersetzen. Ein empfindlicher Punkt. Aber ich glaube, dass es subtilere Formen gibt, wie man die Automatisierung und Digitalisierung vorantreiben kann. Der Hotelier muss sich fragen, in welchem Bereich ein Mitarbeitender am meisten Nutzen stiftet. Man muss die Mitarbeitenden beispielsweise dort einsetzen, wo sie eine Gastgeberrolle übernehmen. Alle anderen Arbeiten sollte man möglichst automatisieren oder digitalisieren.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Jeder Gastgeber muss sich fragen, wie sein Speiseangebot künftig aussieht. Kann die Menükarte so gestaltet werden, dass man auf gewisse Arbeitskräfte in der Küche oder beim Service verzichten kann? Kann man am Mittag ein Buffetmodell anbieten? Können Prozesse vereinfacht werden? Bei der Automatisierung sollte man den Fokus auf Arbeitsschritte legen, die vom Gast nicht bemerkt werden. Vollautomatisierte digitale Zimmer- und Tischbuchungen beispielsweise oder administrative Prozesse.

Werden die Gäste einen Nachteil spüren?
Nicht unbedingt. Nehmen wir das Beispiel der digitalen Tischreservation. Viele erwarten, dass sie 24 Stunden am Tag buchen können. Das ist bei digitalen Modellen möglich, nicht aber, wenn man das Telefon bedienen muss.

Wie nimmt die Branche solche Innovationen an?
Es braucht Zeit. Ein Beispiel verfolgte ich während der Pandemie, als zwei Marktleader in Graubünden ihre Tischreservationssysteme zu Sonderpreisen anboten. Obwohl der Nutzen für Gast und Restaurant eigentlich auf der Hand liegt, war das Echo aus der Gastronomie zunächst zögerlich. Mittlerweile ist ein Onlinereservations-Tool aus vielen Betrieben nicht mehr wegzudenken.

Wo wird es noch persönliche Begegnungen zwischen Gastgeber und Gästen brauchen?
Die authentische Atmosphäre und die Gastlichkeit dürfen bei der Digitalisierung und Automatisierung nicht verloren gehen. Überall, wo es um die Willkommenskultur geht, beispielsweise im Restaurant oder bei der Gästeberatung, erhalten die Mitarbeitenden ein höheres Gewicht. Das wird bereits heute in innovativen Betrieben intensiv trainiert.

Könnte man auch bei den Bergbahnen Sicherheitspersonal abbauen, indem man die Ein- und Ausstiegsportale videoüberwacht?
Neue Projekte gehen in diese Richtung, und die Technologie ist definitiv vorhanden. Aber nicht nur bei den Bergbahnen, sondern auch in der Hotellerie experimentiert man, was möglich ist. Zimmerkomponenten reinigen sich selbst. In Japan eröffnete ein Roboterhotel. Es wird durch 100 Roboter und nur zehn Menschen betrieben. Wenn man einen Neubau plant, ist es ein Muss, sich damit zu befassen, in Anbetracht dessen, dass Mitarbeitende immer teurer werden. Natürlich ist es in einem bestehenden Haus schwieriger, solche Konzepte umzusetzen, aber es ist durchaus möglich.

Nicht alle Gäste möchten digital bedient werden.
So wie sich die demografische Entwicklung präsentiert, werden wir in ein paar Jahren schlicht nicht mehr so viele Arbeitskräfte haben. Gute Unternehmer überlegen sich also heute, wie sie Prozesse umgestalten können, sodass sie mit weniger Personal den gleichen Output erzielen. Es ist eine Kunst, abzuschätzen, wo der persönliche Kontakt nötig ist und wo man allenfalls darauf verzichten kann.

Die Schweiz definiert die hohen Preise durch die Servicequalität. Wie wird das in Zukunft sein?
Der Kampf um Arbeitskräfte wird zunehmend hart geführt, und die Auswahlmöglichkeit der Arbeitnehmenden steigt. Ein solcher Arbeitnehmermarkt führt zwangsläufig zu höheren Löhnen. Dass wir – wie bisher – im europäischen Vergleich sehr gute Löhne bezahlen, wird zunehmend wichtig. In einem Umfeld, in dem in ganz Europa eine Überalterung Einzug hält, ist es entscheidend, für ausländische Mitarbeitende attraktiv zu bleiben. Die steigenden Personalkosten auf den Gast zu überwälzen, ist nur bei einem hohen Qualitätsniveau möglich. Das wird aber nicht jedem Betrieb gelingen. Es wird zu einer gewissen Marktbereinigung kommen.

In Ihren Lösungen für mehr Arbeitskräfte fordern Sie, dass man über das Pensionsalter hinaus arbeiten soll.
Ja, auf freiwilliger Basis. Japan ist uns in der demografischen Entwicklung 15 Jahre voraus. Dort zeigt sich, dass bei der älteren Bevölkerung viel Potenzial liegt. Bisher hatten wir ältere Leute bei der Rekrutierung aber noch nicht im Fokus, im Gegenteil: Ein über 50-Jähriger hatte Mühe, einen Job zu finden. Damit wir diese Menschen im Arbeitsprozess halten können, braucht es individuelle Arbeitszeitmodelle. Die Bedürfnisse können nämlich sehr unterschiedlich sein. Es gibt Leute, die zwei Monate durcharbeiten möchten, um sich danach wieder ins Ferienhäuschen zurückzuziehen. Jemand anders möchte an fünf Tagen pro Woche zwei Stunden arbeiten.

Weshalb sollte ein pensionierter Lehrer der Hotellerie etwas bringen?
Ein pensionierter Lehrer hat viel Reise- und Lebenserfahrung. Sein Engagement kann durchaus gewinnbringend sein. Pensionierte können die Lücken im Arbeitsmarkt sofort füllen, ohne dass es gesetzliche Anpassungen braucht. Aber bisher gab es keinen Anreiz dafür. Man wird steuerlich bestraft, erhält keine bessere Rente und muss auch noch Sozialabgaben leisten, ohne davon profitieren zu können.

Welche Aussicht auf Erfolg hat das Modell in Anbetracht der Frühpensionierungswelle?
Ein Teil der Leute möchte nicht weiter arbeiten. Aber ein grosser Teil der Leute möchte noch einmal etwas Neues beginnen. Eine ältere Bevölkerung hat eher das Bedürfnis, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, wenn Not am Mann ist.

Das Engagement eines pensionierten Lehrers kann für das Hotel durchaus gewinnbringend sein.

Was kann die Schweiz vom Bündner Modell lernen?
Durch die Saisonalität sind unsere Arbeitgeber gewohnt, in kurzer Zeit viel zu leisten und kreativ zu sein. Das hat sich auch in der Pandemie gezeigt und macht mich zuversichtlich. Für gute Lösungen braucht es Flexibilität, Agilität und Dynamik. Das hat das Bündnerland.

Ästhetin und Betriebsökonomin
Nach der Lehre zur Innendekorateurin absolvierte Brigitte Küng die Berufsmatura und später den Master of Science in Business Administration. Sie leitete das KMU-Zentrum Graubünden und war Dozentin für Entrepreneurial Marketing an der Fachhochschule Graubünden (FHGR) in Chur. Gegenwärtig co-leitet die 43-Jährige die Denkwerkstatt Wirtschaftsforum Graubünden und ist Co-Autorin der Studie «Personal- und Fachkräftemangel in Graubünden», die vom Wirtschaftsforum herausgegeben wurde. Die Churerin sitzt im Verwaltungsrat von Lenzerheide Marketing und Support.


Japan ist der Schweiz 15 Jahre voraus

Japan kämpft mit denselben Herausforderungen wie die Schweiz. Durch die alternde Bevölkerung und sinkende Geburtenraten nimmt die Bevölkerungszahl seit 2010 ab. Studien des National Institute of Population and Social Security Research Japan gehen davon aus, dass die Bevölkerung bis 2065 um 30 Prozent zurückgehen wird, von 125,5 auf 88,08 Millionen Menschen.

Höheres Rentenalter und mehr Kinder
Japan begegnet den Herausforderungen wie Rentenfinanzierung und Fachkräftemangel mit Massnahmen in drei Bereichen: Rentenalter, Geburtenrate und Migration. Das Rentenalter wird bis 2030 für Männer und Frauen von 60 auf 65 Jahre erhöht. Zusätzlich sollen die Japaner freiwillig bis 70 weiterarbeiten. Arbeitgeber erhalten Zuschüsse, wenn sie das Umfeld für Ältere verbessern. Ältere Arbeitnehmende erhalten unbefristete Verträge, mit der Hoffnung, dass sie über das Rentenalter hinaus bleiben. Die Zahlen zeigen bereits für 2021 eine Verbesserung der Rentenfinanzierung.

Die Geburtenrate liegt mit 1,33 Kindern pro Frau im Vergleich zu Europa (Schweiz 1,46, Deutschland 1,53 und Frankreich 1,82) unter dem Durchschnitt. Japan schafft Anreize für junge Paare, mehr Kinder zu bekommen: Von finanzieller Unterstützung über Betreuungsangebote und Erleichterung des Wiedereinstiegs für Mütter bis zu Erziehungskursen für Väter. Die Geburtenrate nimmt laut «Annual Report on the Declining Birthrate 2022» weiter ab.

Der Fachkräftemangel ist vor allem in arbeitsintensiven Sektoren wie dem Baugewerbe und der Pflege gross. Deshalb setzt die Regierung auf ausländische Arbeitskräfte. Ihnen wird das Arbeiten in Japan vereinfacht. Davon machen vor allem Chinesen, Vietnamesen und Koreaner Gebrauch.


Bevölkerung nimmt im Alpenbogen ab

Nicht nur im Bündnerland ist die Situation für Unternehmen, die auf der Suche nach Arbeitskräften sind, angespannt. Die Prognosen bis 2040 zeigen, dass die Bevölkerung in Ballungszentren und Gebieten mit hohem Gewerbe- und Industrieanteil wächst. In touristischen Berggebieten hingegen nimmt sie laut Prognosen ab. Besonders ersichtlich ist der Effekt im Churer Rheintal im Vergleich zu den angrenzenden Berggebieten. Im flachen Rheintal haben sich Gewerbe und Industrie angesiedelt. Man erwartet eine Bevölkerungszunahme von bis zu 0,8 Prozent. Die daneben liegenden Berg- und Tourismusregionen müssen mit einem Rückgang der Bevölkerung von bis zu 1,5 Prozent rechnen.

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