Vor der Schlussabstimmung über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) am Freitagmorgen sprach SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz im Nationalrat von Landesverrat.Das Gesetz sei eine «Kapitulation vor der EU» und eine für das Schweizer Volk demütigende Unterwerfungserklärung.
Amstutz forderte vom Bundesrat, die Initiative mit einer Verordnung umzusetzen. So verlange es die Verfassung. Ansonsten sei die SVP gezwungen, ihre Gremien über die Lancierung einer Kündigungsinitiative abstimmen zu lassen.
Die SVP-nahe AUNS hat diesen Entscheid bereits gefällt. Sie will eine Kündigungs-Initiative lancieren, wie es in einer unmittelbar nach der Schlussabstimmung verschickten Medienmitteilung heisst. «Das Freizügigkeitsabkommen muss weg», schreibt die AUNS. Sie werde es nicht zulassen, dass die Schweiz zu einer EU-Kolonie verkomme.
CVP enthält sich der Stimme
Die Gesetzesänderung zur MEI-Umsetzung hat der Nationalrat mit 98 zu 67 Stimmen bei 33 Enthaltungen angenommen, der Ständerat mit 24 zu 5 Stimmen bei 13 Enthaltungen.
Der Stimme enthalten hatten sich die CVP-Vertreter. Sie kämpften für eine Umsetzung näher am Verfassungsartikel. Mit dem nun beschlossenen Gesetz würden die Zuwanderung nicht gesteuert und der Volkswille nicht umgesetzt, erklärte CVP-Präsident Gerhard Pfister(ZG) im Nationalrat.
Die übrigen Fraktionen zeigten sich in unterschiedlichem Mass zufrieden. Nach Ansicht von BDP-Präsident Martin Landolt (GL) handelt es sich um die im Moment beste Lösung. «Es ist ein erster Schritt, weitere müssen folgen», sagte er mit Blick auf einen Gegenvorschlag zur RASA-Initiative. GLP-Fraktionschefin Tiana Moser(ZH) erinnerte daran, dass es die Aufgabe des Parlaments sei, Initiativen umzusetzen. Und das Parlament nehme eine Abwägung aller Interessen vor.
Cassis: «Pragmatische Lösung»
Gleich argumentierte Ignazio Cassis (FDP/TI), dessen Fraktion die Vorlage massgeblich geprägt hatte. Die Verfassung habe nicht nur einen Artikel, sondern 197. Unter anderem bestimme sie, dass Bund und Kantone das Völkerrecht zu beachten hätten. «Das haben wir gemacht», sagte Cassis. Es handle sich um eine pragmatische Lösung, und Pragmatismus sei immer eine Tugend der Schweiz gewesen.
Um Kontingente und Höchstzahlen einzuführen, hätte man die Bilateralen kündigen müssen, sagte SP-Fraktionschef Roger Nordmann (VD). Das verlange die MEI aber nicht.Auch die SVP habe das im Abstimmungskampf nicht gefordert. Wenn sie dieses Ziel verfolge, solle sie dazu eine Volksinitiative lancieren, sagte Nordmann.
Ergebnislose Verhandlungen
Die Masseneinwanderungsinitiative der SVP ist am 9. Februar 2014 von Volk und Ständen angenommen worden. Sie verlangt die eigenständige Steuerung der Zuwanderung und die Beschränkung der Zuwanderung mit Höchstzahlen und einem Vorrang für Inländer bei der Stellenbesetzung. Völkerrechtliche Verträge, die im Widerspruch dazu stehen, müssen neu verhandelt werden.
Weil diese Verhandlungen ohne Ergebnis geblieben sind, haben sich die Räte nun auf eine Umsetzung geeinigt, die die Verpflichtungen der Schweiz aus dem Freizügigkeitsabkommen nach Einschätzung des Bundesrats nicht verletzt. Die Vorlage beschränkt sich auf eine Vorzugsbehandlung für Stellensuchende, die bei der Arbeitsvermittlung gemeldet sind.
In Berufsgruppen, Tätigkeitsbereichen und Wirtschaftsregionen, in welchen die Arbeitslosigkeit über dem Durchschnitt liegt, werden zeitlich befristete Massnahmen zur Förderung von Stellensuchenden ergriffen. Arbeitgeber müssen offene Stellen den Arbeitsämtern melden. Dort stehen die Inserate während einer gewissen Zeit ausschliesslich den gemeldeten Stellensuchenden zur Verfügung.
Die Arbeitsvermittlung stellt den Arbeitgebern zudem die Unterlagen von passenden Bewerbern zu. Diese müssen geeignete Kandidatinnen und Kandidaten zu einem Bewerbungsgespräch oder einer Eignungsabklärung einladen. Das Resultat ist der Arbeitsvermittlung mitzuteilen, muss aber nicht begründet werden. Ausnahmen sind möglich, etwa in Familienunternehmen oder wenn die Stelle mit einer Person besetzt wird, die schon früher für das Unternehmen gearbeitet hat.
Das Gastgewerbe befürchtet, dass die am Freitag beschlossene Umsetzung der MEI den KMU unnötige bürokratische Lasten auferlegen wird. Auch die beabsichtigte Wirkung sei fraglich. Die Branchenverbände hotelleriesuisse und Gastrosuisse fordern deshalb dringend Nachbesserung durch die bevorstehende Verordnung. Insbesondere die bürokratische Interviewpflicht überlaste die personalintensive Branche mit mehr als 200'000 Mitarbeitenden massiv (mehr dazu hier «Gastgewerbe fürchtet Bürokratie ohne Wirkung»).
Ein «gutes Zeichen» für Brüssel
Eine Beurteilung durch die EU-Kommission ist für nächste Woche zu erwarten. Das verabschiedete Gesetz gehe in die «richtige Richtung», sagte jedoch der Chefsprecher der EU-Kommission am Freitag in Brüssel nach der Schlussabstimmung über die MEI-Umsetzung. Es sei «ein gutes Zeichen», sagte er weiter.
Als positiv bezeichnete er, dass im neuen Gesetz keine Quoten enthalten sind, und dass der Zugang für EU-Bürger zum Schweizerischen Arbeitsmarkt nicht beschränkt ist.
Weg frei für «Horizon 2020» und «Erasmus+»
Der Bundesrat prüfte im Anschluss an die Entscheidung des Parlaments, die Vereinbarkeit der Umsetzungs-Vorlage mit der schweizerischen Rechtsordnung und beschloss, die Personenfreizügigkeit auf Kroatien auszudehnen und das Zusatzprotokoll zum Freizügigkeitsabkommen zu ratifizieren.
Unmittelbar nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014 hatte der Bundesrat erklärt, das Zusatzprotokoll nicht unterzeichnen zu können. Als Reaktion darauf legte die EU die die Verhandlungen über die Teilnahme der Schweiz an der Forschungszusammenarbeit «Horizon 2020» und den Studentenaustausch «Erasmus+» auf Eis. (htr/npa)