Romano Wyss, Sie befassen sich seit über zehn Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Resilienz im Tourismus. Was läuft gut, was nicht?
Viele Destinationen haben lange zu stark auf ihr bestes Pferd gesetzt. Das führte zu immer mehr vom Gleichen – bei den Angeboten wie bei den Gästen. Je mehr sich eine Region nur in einem Segment weiterentwickelt, die Prozesse ständig optimiert und die Effizienz steigert, umso anfälliger wird sie bei Erschütterungen. Das hat die Pandemie klar aufgezeigt.
Und was läuft gut?
Der Blick verlagert sich zunehmend auf die langfristige Entwicklung. Im Fokus stehen nebst Quartals- und Saisonzahlen neu auch längerfristige Ziele und regionale Stärken.
Romano Tobias Wyss (38) ist in der Schweiz und den USA aufgewachsen. Der ausgebildete Wirtschaftsgeograf befasst sich seit 2009 mit dem Thema Resilienz im Tourismus und hat dazu 2015 doktoriert (Resilienz alpiner Tourismusdestinationen im Kontext des Klimawandels). Er unterrichtet Tourismus, Regionalwirtschaft und Resilienz an der ETH Lausanne (EPFL) sowie an Hochschulen im Ausland. Er ist mit einer eigenen Firma in der regionalwirtschaftlichen Beratung tätig und in der Romandie Regionalpartner der Village-Office Genossenschaft. Wyss lebt mit seiner Partnerin in Lutry VD am Genfersee und mag in der Freizeit Berg- und Wassersport.
Welchen Einfluss haben Regionalität und Authentizität auf die Widerstandsfähigkeit?
Authentizität heisst etwas haben, was nicht jeder hat und nicht beliebig austauschbar ist. Das können landschaftliche Besonderheiten sein, aber auch etwas, was sich über lange Zeit entwickelt hat. Vermag eine Region ihre Strukturen in Wert zu setzen und sind die Akteure miteinander vernetzt, garantiert das eine gewisse Stabilität. Es fängt beim Hotel an, das mit regionalen Handwerkern und Produzenten zusammenarbeitet und so die regionale Struktur stärkt. In den Schweizer Berggebieten sind die wirtschaftlichen Strukturen im Vergleich zu vielen französischen und italienischen Bergdörfern zum Glück noch recht intakt, aber wir müssen dazu Sorge tragen.
Bedeutet Resilienz aktuell, den Tourismus neu zu erfinden?
Es braucht vielmehr eine Rückbesinnung auf die Werte, die vor über 100 Jahren schon die Engländer angelockt haben. Dazu gehören die Berge und die intakte Natur, regionale Bräuche, Traditionen und Speisen, aber auch Kultur, Architektur und Handwerk sind wichtig. Notwendig sind aber auch gastfreundliche Einheimische, die den Tourismus mittragen. Diese Werte wurden teils arg überstrapaziert, wie man beispielsweise in der Jungfrau- und der Titlisregion oder in Luzern gut erkennen kann. Ich würde mich freuen, wenn ich in Interlaken nebst chinesischem und indischem Essen auch eine Rösti finden würde.
Kaum jemand ändert etwas, wenn das Geschäft brummt.
Man sollte sich nie fast sklavisch von einer Gästegruppe abhängig machen. Und zudem sollte man die Rolle des Tourismus generell überdenken. Ist er eine Milchkuh, mit der man schnell viel Geld verdienen kann? Oder ist er ein zentraler Teil einer nachhaltigen Regionalwirtschaft? Mich überzeugt diesbezüglich die Destination Engadin/Scuol. Sie hat sich schon vor einigen Jahren regional ausgerichtet, und jede Gemeinde kann sich unter dem gemeinsamen Dach individuell weiterentwickeln. Die Destination hat schon früh eine Stelle für Nachhaltigkeit geschaffen und sowohl die qualitative wie auch die langfristige Entwicklung zum Thema gemacht. Das kommt auch den Einheimischen zugute.
Bislang orientierten sich die Tourismusakteure vor allem an den Gästewünschen. Nun sollen sie plötzlich nach innen schauen?
Langfristig gehts um das Bewusstsein und die Identität einer Region. Resilienter Tourismus verfolgt eine Entwicklung, die längerfristige Ziele und Perspektiven verfolgt, die lebbar ist und auch der Gesellschaft dient. Auch für die nächsten Generationen. Die Gästeeinkünfte sollten nicht nur wenigen Akteuren kurzfristig zugutekommen, sondern helfen, den Einheimischen nachhaltig die Lebensqualität zu erhalten.
Der Tourismus wird seit über einem Jahr von einer Pandemie erschüttert. Sind alle Akteure, die das überstehen, resilient?
Ja und nein. Widerstandsfähig heisst, einen externen Schock wie die Pandemie zu überstehen. Bloss weil sich ein Akteur widerstandsfähig zeigt, ist das keine Garantie dafür, dass er auch eine andere Krise überstehen würde. Nebst genügend Ressourcen braucht es auch den Willen und die Bereitschaft, sich an neue Gegebenheiten anzupassen.
Es gibt Stimmen, die sagen, zu viele staatliche Massnahmen und Hilfsgelder verfälschten den Markt. Wie sehen Sie das?
Will der Staat damit Strukturen per se erhalten, ist das nicht sinnvoll und verzögert bloss die natürliche Strukturbereinigung. Im jetzigen Fall sehe ich das jedoch anders. Die Regierung hat den touristischen Akteuren starke Restriktionen auferlegt oder sie sogar gestoppt. Spricht der Staat gegenüber gewissen Unternehmen ein Berufsverbot aus, muss er diese unterstützen.
Auch die Bergbahnen werden staatlich immer wieder unterstützt. Aktuell sind 51 neue Bergbahnen und Skilifte geplant – zu den über 2400 bestehenden Seilbahn- und Skiliftanlagen. Wird so das alpine Rückgrat gestärkt?
Bergbahnprojekte sind meist regionalwirtschaftlich motiviert, und der Bergbahntourismus wird politisch gefördert und gestützt. Für neue Bergbahnen öffentliche Gelder zu verwenden, macht aber nur Sinn, wenn sie in den regionalen Tourismus eingebunden werden. Auch sollten für den Bau lokale und regionale Unternehmen berücksichtigt werden. Aktuell gibt es einen Trend, dass Bergbahnen Stararchitekten wie Mario Botta oder Herzog & de Meuron engagieren. Auch ich bin für ästhetisch gestaltete Bergbahngebäude, würde aber inspirierte Architekten aus der Region vorziehen, die einen engen Kontakt zum lokalen Gewerbe haben.
Sind Bergbahnen Stütze oder Motor einer Region?
Die Zeiten, in denen eine einzige Bergbahn eine ganze Region tragen konnte, sind vorbei. Als zentraler Akteur in der touristischen Wertschöpfungskette haben sie eine Verantwortung, mit anderen Tourismusakteuren zusammenzuarbeiten und die Region weiterzuentwickeln. Und sie können der Motor von Wandel und Veränderung sein.
Kann man den Tourismus auch ohne diesen zentralen Akteur gestalten?
In Frankreich gibt es aktuell eine grosse Debatte dazu, da sich einige Regionen bewusst aus dem Bergbahntourismus zurückziehen wollen. Auch im Waadtland wurde entschieden, dass man nicht alle Bergbahnen erhalten will. So setzt man zum Beispiel in Château-d’Oex auf einen Tourismus ohne Bergbahn. Ich bin überzeugt, dass es für manche Regionen eine Möglichkeit ist. Es sind aber nicht die bösen Bergbahnen, die den Wandel hin zu einem nachhaltigeren Tourismus verhindern. Die Rolle der Bergbahn und ihre Einbindung in die Destination müssen jedoch genauso überdacht werden wie die Angebote, die man mit der Bergbahn an den Gast bringen will.
Welche Voraussetzungen machen den Tourismus generell widerstandsfähiger?
Es braucht ein Netzwerk von Akteuren mit unterschiedlichen Angeboten und Stärken. Angebote und Gäste müssen diversifiziert und der Tourismus in eine vielfältige Regionalwirtschaft eingebunden sein. Mit starken Kooperationen ist man krisenfester, und nicht zu vergessen ist die breite Bevölkerung, die den Tourismus mitträgt. Resilienz ist wie das Geflecht eines Fischernetzes, das beim Wegfallen einzelner Knoten immer noch funktionsfähig bleibt. Nebst der Anpassungsfähigkeit an neue Rahmenbedingungen ist auch die Diversität in Leitungsgremien ein zentraler Faktor für die Widerstandsfähigkeit in Krisen.
Welche Rolle spielt die Diversität?
Die Diversifizierung der Angebote sollte einhergehen mit diversen Leitungsteams in einer Tourismusorganisation. Darauf wurde in der Vergangenheit zu wenig geachtet. Für manche DMO-Stellen wurden immer die gleichen Personen rekrutiert, vor allem Betriebswirtschaftler und Marketingexperten, mit der Folge, dass alle das Gleiche machten und einige Aspekte gänzlich vergessen gingen. Paradigmen wurden dadurch bestätigt und nie mehr infrage gestellt.
Auch in Verwaltungsräten von Bergbahnen mangelt es an Diversität.
Die Mitglieder haben oft nicht nur den gleichen Hintergrund, sie sitzen in anderen Gremien wieder mit gleichen Leuten zusammen. Das führt zu einem verengten Blick. Eine Frau oder einen in der Region gut verankerten Tourismusfernen findet man kaum in solchen Verwaltungsräten. Wieso nicht mal einen Kulturwissenschaftler in ein solches Gremium wählen? In einem Land von Ein- und Zuwanderern könnte man auf strategischer Ebene auch mal solche Menschen einbinden. Zuwanderer findet man im Tourismus zwar oft an der Front, jedoch kaum an den Schaltstellen.
Was würde sich dadurch verändern?
Der Blick würde offener. Verschiedene Herkünfte führen zu unterschiedlichen Ideen und Lösungsansätzen. Es gäbe breitere Diskussionen, was aus Sicht der Resilienz wünschenswert ist. Klar würden manche Entscheidungen dadurch länger dauern, aber schnelles Handeln und Investieren ohne langfristige Ziele führen nirgendwo hin. Diversität führt irgendwann auch zu mehr Qualität.
Je wandlungsfähiger und innovativer eine Region ist, desto krisenfester ist sie. Wie lässt sich das fördern?
Ausschlaggebend ist das Mindset. Auch hier gehts darum, Leute mit verschiedenen Denkmodellen, Erfahrungen und Kompetenzen einzubinden. Um Gästebedürfnisse abzuholen und neue Trends aufzuspüren, ist der Austausch mit unterschiedlichen Partnern unerlässlich. Wichtig ist auch, das eigene Modell immer wieder zu reflektieren, weiterzuentwickeln und auf neue Strömungen einzugehen.
Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschmelzen zunehmend und bringen auch ausserhalb der Saison Gäste. Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf für Destinationen und Akteure?
Im Moment gibt es zwei Herausforderungen: den Tourismus für neue Arbeitsmodelle zu sensibilisieren und die Zusammenarbeit von Initianten neuer Ideen mit den Tourismusorganisationen zu fördern. Es braucht Kooperationsmodelle, die auch wirtschaftlich funktionieren. Das Mountain Lab in Adelboden ist so ein Beispiel. In diesem Bereich sehe ich grosses Innovationspotenzial. An einem Ort kann man ein ausgedientes Schulgebäude umnutzen, woanders gibts leer stehende Hotels oder sonstige Räumlichkeiten. Die neuen Gäste unterstützen wiederum das lokale Gewerbe, welches mit neuen Dienstleistungen erweitert werden kann. Allerdings möchten sie in der Tourismusentwicklung auch vermehrt eingebunden werden.
Sie prophezeien den Regionen mehr Zweitheimische?
Die breite gesellschaftliche Entwicklung durch die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten. Die neuen Arbeitsmodelle weichen die Grenzen zwischen Einwohner, Ferien- und Teilzeitgast zunehmend auf. Bereits heute sind Zweitwohnungsbesitzer einer Destination Teilzeiteinwohner mit klaren Vorstellungen und Interessen, die auch mal zu Konflikten führen. Wenn sich die Leute aber mit einem Ort identifizieren, bringen sie gerne ihre Kompetenzen, Erfahrungen, Ressourcen sowie ihr Netzwerk ein und helfen dadurch, die Region resilienter zu machen.
Sie beraten auch Regionalentwickler. Wie lautet Ihre häufigste Empfehlung?
Langfristig denken! Eine Region muss sich überlegen, wo sie in 50 Jahren stehen möchte und welche Massnahmen für die nächste Generation tragbar sind. Es geht nicht darum, kurzfristig möglichst viele Fördergelder zu akquirieren für Projekte, die in fünf Jahren schon wieder vom Tisch sind, sondern um Entwicklungsmodelle, die wirtschaftlich und sozial sind und auch der lokalen Bevölkerung zugutekommen. Und ich empfehle auch stets, alle relevanten Akteure miteinzubeziehen.