Was serviert das beste Restaurant der Welt (jedenfalls nach dem Ranking der World’s 50 Best) zur Wildsaison? Klar, dass man im «Noma» die Gäste mit ausgefallenen Genüssen überrascht: zum Beispiel Tatar vom Rentier-Herzen, bedeckt von grünen Sauerampferblättern. Der Service fordert die Gäste auf, das Tatar mit der Hand zu essen und in eine cremige Eigelbsauce mit Ameisen-Topping zu tunken. So weit zur Avantgarde der Kulinarik, made in Kopenhagen.

Ginge so etwas auch in der Schweiz? Der bekennende Wildfan Stefan Jäckel, Küchenchef im Restaurant La Rôtisserie des Zürcher 5-Sterne-Hauses Storchen, ist skeptisch: «Wild roh zu servieren, ist bei uns schwierig. Der typische Gast isst am liebsten Rehrücken, rosa gebraten.» Die Nachfrage nach Jäckels «Duo vom Reh» ist derzeit gross. Er serviert es in zwei Gängen, zunächst den Rücken, an der Karkasse gebraten und vor den Augen der Gäste am Tisch tranchiert. Dazu gibt es frische Steinpilze, Brokkolipüree und ein Chutney von grillierter Ananas, das mit seinen leicht rauchigen Noten perfekt harmoniert. Im zweiten Gang dann die Rehstelze, ganz klassisch geschmort und mit kräftigem Wacholderjus lackiert, dazu Gewürzrotkohl und Spätzli. «Beim Thema Wild schätzen die Gäste heimische Aromen», so Jäckel.

«Wildfleisch ist ein enorm zeitgemässes Produkt»
Wildbret passt zum derzeitigen Boom regionaler Lebensmittel und der Rückbesinnung auf echte Saisonalität. «Der Wunsch nach Wildgerichten nimmt zu», beobachtet David Clavadetscher, Geschäftsführer von Jagd Schweiz. «Wildfleisch ist ein enorm zeitgemässes Produkt – ökologisch, CO2-neutral, fast völlig fett- und cholesterinfrei.» Jetzt, zum Ende des Jahres und über die Feiertage, haben Wildgerichte Hochsaison – auch wenn sie heute, dank Importware und Tiefkühltruhe, fast ganzjährig auf den Speisekarten zu finden sind. Sie gehören aber als Saisongerichte deshalb in den Herbst und Winter, weil Wildhase, Fasan oder Wildente nur dann in heimischen Wäldern geschossen werden dürfen.

470 gr
470 Gramm Wildfleisch werden in der Schweiz pro Kopf und Jahr verzehrt. Der Hauptkonsum findet in den Monaten Oktober und November statt.
39 %
2020 stammten nur 39 Prozent des in der Schweiz konsumierten Wildfleischs aus dem Inland. In den Jahren zuvor war der Anteil sogar noch geringer.
844 t
Österreich ist die wichtigste Quelle für Wildfleisch-Import (844 Tonnen im Jahr 2020), dahinter folgen Deutschland (491 Tonnen) und Slowenien (430 Tonnen). Der Import aus Neuseeland ging dagegen deutlich zurück, von 722 Tonnen (im Jahr 2016) auf 363 Tonnen (2020).
13 %
Knapp 13 Prozent des verzehrten heimischen Wildfleischs stammt aus Zuchtgehegen, die Tendenz ist leicht steigend.
Quelle Proviande, die Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft; Jagd Schweiz

Das A und O jedes anspruchsvollen Wildgerichts ist eine gute Bezugsquelle. Die Küche muss sich darauf verlassen können, dass das Reh oder Wildschwein in freier Natur lebte und stressfrei geschossen wurde, dass es unmittelbar nach der Jagd aufgebrochen und heruntergekühlt wurde, ohne lange Transportwege. Stefan Jäckel schwört auf Alfred von Escher, den Lieblingslieferanten der Spitzenköche: «Er lässt das Fleisch in seinen Lagerräumen abhängen, ich bekomme es erst dann, wenn es perfekt zu verarbeiten ist», sagt Jäckel. «Die Sensibilität und Erfahrung eines solchen Spezialisten ist wie eine Garantie, ein Teil unseres Erfolgs ist auch seiner.» Immer wieder hat von Escher auch Federvieh im Angebot, das in der Schweiz kaum gejagt wird. Neulich etwa Rebhühner aus Nordengland: «Das Fleisch geht in Richtung Perlhuhn, aber der Geschmack ist wilder», so Jäckel. Oder die Moorhühner aus Schottland: «Das ist eine Rarität mit ausgeprägtem Wildgeschmack, aber es gibt unter unseren Gästen Liebhaber, die extra deshalb kommen.»

Exklusive Spezialitäten für einen ausgewählten Kreis
Nur drei, vier Restaurants in der Schweiz beliefert von Escher mit solchen Spezialitäten, neben Stefan Jäckel und seinem Kollegen Stefan Heilemann vom «Widder» gehört auch Franck Giovannini vom Restaurant de l’Hôtel de Ville im waadtländischen Crissier zu den Abnehmern. Jedes Jahr im Herbst legt der Spitzenkoch eine eigene Wildkarte mit rund 15 Positionen auf, sie trägt den Titel «La Chasse». Darunter sind aussergewöhnliche Spezialitäten wie die karamellisierte Waldschnepfe, das Birkhuhn aus dem Wallis, das mit Petite Arvine Grain Noble gebraten wird, oder die Ringeltaube aus den Pyrenäen mit grauen Schalotten und weissem Alba-Trüffel.

Eine ganz besondere Spezialität, für die Liebhaber aus der ganzen Schweiz jetzt an den Lac Léman reisen, ist der Lièvre à la royale, eine Spezialität des Hôtel de Ville. Das königlichste aller Wildgerichte ist von den Speisekarten fast völlig verschwunden, weil es erstens sehr aufwendig zuzubereiten ist und zweitens die unabdingbaren Zutaten, Wildhasenbrust und -blut, heute schwer zu bekommen sind. Doch gerade diese Herausforderung reizt einen Spitzenkoch wie Franck Giovannini: «Wildhase ist diffizil zuzubereiten», sagt er. «Er verträgt nicht viel Hitze, man muss sehr konzentriert arbeiten.»

Viele Gastronomen sind selber passionierte Jäger
Immer mehr Schweizer Gastronomen aber möchten sich beim sensiblen Thema Wild erst gar nicht von Lieferanten abhängig machen und begeben sich selbst auf die Pirsch. Zum Beispiel Daniel Aschwanden vom Hotel Schlüssel in Beckenried, der jedes Tier, das er schiesst, komplett verarbeitet und seine intensiven Saucen mit Wildknochen und Parüren kocht. Bei ihm gibt es keine Speisekarte, der Chef erzählt den Gästen selbst am Tisch, wenn er eine Rarität wie Rehleber oder sogar mal einen Steinbock in der Küche hat. [IMG 2]

Auch Bernhard Bühlmann vom Gasthof Bären in Mägenwil geht schon seit 27 Jahren auf die Jagd, Chestenberg und Oberhof heissen die Aargauer Reviere vor seiner Haustüre. Wenn es seine Zeit erlaubt, zieht er zwei- bis dreimal pro Woche los. Im Jahr verarbeitet er 60 bis 80 Rehe, die entweder er selbst oder einer seiner Jagdkollegen geschossen hat: «Das ist für mich Regionalität pur.» In diesen Tagen können sich seine Gäste etwa auf den Rehpfeffer freuen, den er am liebsten mit frischen, handgeschabten Spätzli und Rosenkohl serviert. «Das Wichtigste daran ist eine Wildsauce von perfekter Konsistenz», sagt der Küchenchef, er schmeckt sie mit Wacholder, Lorbeer, Nelken und frischem Rosmarin ab. Auch Wildschwein steht in der Saison immer auf der Karte, das Filet serviert er auf bunten Randen mit Calvadosjus und Bramata-Maisgnocchi. «Kein anderes Produkt hat eine solche Nähe zum Terroir wie das Wild», sagt Bühlmann. Ein Reh wird von ihm und seinen Kollegen meist vom Hochsitz aus 100 bis 120 Metern geschossen, es bekommt nichts mit, weil die Kugel schneller ist als der Schall. «Die Tiere sind in ihrer natürlichen Umgebung aufgewachsen, ohne menschlichen Einfluss und weit weg von der Massentierhaltung.»


Wildwechsel: Woher stammt das Fleisch?

Auch wenn Wild auf unseren Tellern einen engen Bezug zur heimischen Natur suggeriert - Tatsache ist: Nur gut ein Drittel des hierzulande verzehrten Wildfleischs stammt tatsächlich aus der Schweiz. Denn das Angebot aus unseren Wäldern hat seine Grenzen. Pro Jahr darf nur eine limitierte Zahl an Wildtieren geschossen werden, damit der Bestand im Gleichgewicht bleibt. Ein Teil des Wildbedarfs wird deshalb per Lastwagen abgedeckt, mit Provenienz aus Österreich und Deutschland, Slowenien, Polen oder Ungarn. Wenn Supermärkte und Discounter in ihren Tiefkühltruhen Hirsch anbieten, dann handelt es sich auch oft um Gatterwild aus Übersee. In Neuseeland und Australien werden die Tiere auf riesigen Farmen wie Nutzvieh gehalten, inklusive Fütterung und Schlachtung im industriellen Stil.

Auch in der Schweiz wird Wild gezüchtet, wenn auch in viel kleinerem Massstab. In Jägerkreisen ist diese Form der Wildfleischproduktion allerdings bisweilen verpönt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nicht mit dem Bio-Image verträgt, das sich die Branche gern auf die Fahne schreibt. Martin Schurter, Präsident der Schweizerischen Vereinigung der Hirschhalter, sieht für den Konsumenten geschmacklich und qualitativ keinen Unterschied: «Unsere Tiere leben in der freien Natur, sie ernähren sich wie ihre Artgenossen in freier Wildbahn vor allem von Gras und von den Früchten der Bäume und Sträucher, die sie am Waldrand finden.»

Auf seinem Thurhof in Ossingen bei Winterthur ZH hält Schurter auf 5,5 Hektaren Weidefläche je nach Saison bis zu 150 Hirsche, die er nach der Schlachtung fast vollständig verwertet. Was nicht als Schnitzel, Entrecote oder Filet verkauft wird, verarbeitet er zu Hirschpfeffer, Würsten oder Fleischkäse. Weil inländisches Wildfleisch heute begehrter ist denn je, sieht der Züchter auch in Zukunft viel Potenzial: «Die Nachfrage ist steigend, der Markt für weitere Zuchten wäre da – nur die Flächen sind in der Schweiz leider begrenzt.»