Seit Januar 2023 überschaut Anna Baumann die nachhaltige Entwicklung der Unesco-Biosphäre Entlebuch (UBE). Die ehemalige Direktorin des Tierparks Goldau führt somit das Lebenswerk ihres Vorgängers und UBE-Gründers Theo Schnider fort. Gemeinsam mit der Bevölkerung werden Natur und Kultur gepflegt, die Regionalwirtschaft gestärkt sowie Forschung und Bildung unterstützt. Die UBE will Modellregion für nachhaltige Entwicklung, Vernetzung und Innovation sein. Nachhaltiger Tourismus ist dabei ein Schlüsselbereich. Doch wie gelingt der Spagat zwischen zukunftsweisender Regionalwirtschaft und Kulturerhalt? Und was können andere Destinationen von der UBE lernen?

Anna Baumann, als Direktorin der Unesco-Biosphäre Entlebuch tragen Sie die Verantwortung für die Zukunftsentwicklung einer ganzen Region. Sie brauchen breite Schultern.
(lacht) Die habe ich! Auch dank meiner vorherigen Arbeit als Direktorin im Tierpark Goldau. Mein Tätigkeitsfeld bei der Biosphäre Entlebuch ist enorm gross, das stimmt. Aber ich bin es gewohnt, anzupacken, umzusetzen und mich durchzusetzen. Ich bin ein offener Mensch und höre mich gerne in der Bevölkerung nach ihren Bedürfnissen um. Und ich bin durchaus auch kritikfähig. Als Macherin hat man immer auch Leute gegen sich. Das liegt in der Natur der Sache. Es sind nicht immer alle gleicher Meinung. Ich bin das gewohnt, brauche die Auseinandersetzungen sogar. Das erzeugt ganz andere Gedanken und Ideen, als wenn man alleine im Büro sitzt.

7
Gemeinden – Doppelschwand, Entlebuch, Escholzmatt-Marbach, Flühli, Hasle, Romoos und Schüpfheim

17'000
Einwohner, davon 8600 Erwerbstätige

250'000
Gästeübernachtungen in den 18 Hotels und 1700 Ferienwohnungen der Region

900'000
Gäste pro Jahr, grösstenteils aus den Kantonen Luzern, Bern und Aargau

850
Landwirtschaftsbetriebe, die für ein vielfältiges «Echt Entlebuch»-Produktsegment sorgen

394
Quadratkilometer Gesamtfläche (1 Prozent der Fläche der Schweiz), davon 50 Prozent geschützt

Ihr Vorgänger Theo Schnider hat Sie als Gestalterin bezeichnet. Inwiefern können Sie sich bei der UBE als solche verwirklichen?
Ich bin tatsächlich keine Verwalterin, sondern Gestalterin. Wir sind derzeit im Planungsprozess für 2025–2028. In dieser Phase kommt meine Art als Macherin zum Tragen. Ich kann dabei durchaus hier und dort Zeichen setzen und meine Lust am Gestalten ausleben.

Nach 23 Jahren hat die UBE international Vorzeigecharakter. Muss dennoch Überzeugungsarbeit geleistet werden?
Wer gestaltet, muss immer Überzeugungsarbeit leisten. Die UBE ist heute sehr gut aufgestellt mit den Delegierten der Gemeinden, welche die Bevölkerung repräsentieren, aber auch unsere Wünsche und Projekte reflektieren und kritisch würdigen. Die Bevölkerung ist stolz auf die Biosphäre Entlebuch. Es wurde in den letzten Jahrzehnten mit wenig Ressourcen enorm viel geleistet. Es wurde viel Freiwilligenarbeit reingesteckt.

Immer noch werden zahlreiche Projekte in Fronarbeit von der Bevölkerung vorwärtsgetrieben. Selbstverständlich verdienen diese Personen grosse Wertschätzung und Unterstützung vom Biosphären-Management. Als Organisation können wir die Bevölkerung sensibilisieren und befähigen. Sie soll aus eigener Überzeugung für das Wohl ihres Lebensraumes einstehen. Wir können informieren und motivieren, der Umsetzungsentscheid liegt aber immer bei der entsprechenden Firma, Gaststätte oder Person selber.

Warum tun sich andere Destinationen noch schwer damit, die Bevölkerung in den Gestaltungsprozess miteinzubeziehen?
Vielleicht sind sie noch nicht gewohnt, so zu arbeiten. Vielleicht ist die Offenheit noch nicht vorhanden – oder die Kritikfähigkeit.

Zukunftsgerichteter Wirtschaftsraum oder Kulturerhalt – worauf legen Sie persönlich den Fokus?
Das darf man nicht trennen. Die gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Faktoren gehören zusammen und müssen im Gleichgewicht sein. Ein Paradebeispiel dafür ist unsere Alpabfahrt. Der Anlass zieht jährlich 10 000 Besuchende an und ist somit ein grosser wirtschaftlicher Faktor. Gleichzeitig ist die Alpabfahrt gelebte Tradition. Es liegt im Interesse der Biosphäre, das vielfältige und lebendige Brauchtum vor Ort zu pflegen und sich aus Traditionen heraus weiterzuentwickeln.

Bislang musste ich mich noch nicht mit Car-Karawanen auseinandersetzen, und ich wünsche es mir auch nicht.

Was ist für die Unesco-Biosphäre Entlebuch aus touristischer Sicht das Mass aller Dinge?
Wir konzentrieren uns auf nachhaltigen Tourismus, der naturverbundene Menschen anspricht. Das sind in erster Linie Familien mit kurzen Anreisewegen. Wir sind diesbezüglich bereits gut aufgestellt. Nun gilt es, dies konsequent weiterzuverfolgen und die Vision Nachhaltigkeit umzusetzen, denn wir wollen nicht nur vordergründige Nachhaltigkeit.

Wie bringen wir den Nachhaltigkeitsgedanken an den Gast?
Indem wir das Gedankengut und die Lehren in schöne und authentische Geschichten verpacken. Der Gast hört diese Geschichten gern. Er will unterhalten werden. Er wünscht sich die Interaktion mit der Bevölkerung. Dieser Austausch ist doch genau das Spannende am Reisen.

Bringt Sie das Geschäft mit dem internationalen Massentourismus nicht in Versuchung?
Wir haben uns nie auf Massentourismus ausgerichtet. Wir hätten gar nicht die Kapazität zur Unterbringung der Gäste. Bislang musste ich mich hier auch noch nicht mit Car-Karawanen auseinandersetzen, und ich wünsche es mir auch nicht. Diese Haltung durchzusetzen, verlangt konsequentes Handeln.

Eine erweiterte Kooperation mit Luzern Tourismus steht nicht zur Debatte?
Wir wollen die Kooperation mit Luzern Tourismus im Bereich Nachhaltigkeit und Natur durchaus ausbauen. Ich bin der Meinung, dass man unseren Gästen sowohl die Städte als auch das Land zeigen sollte. Sie sollen sehen, wie schön und bereichernd dieser Gegensatz ist. Dafür braucht es eine Strategie. So ist es auch im Businessplan von Luzern Tourismus angedacht.

Stillstand kommt nicht infrage.
Stillstand ist der Tod eines jeden Organismus. Jede Initiative und Entwicklung ist gut. Gleichzeitig bin ich ein langfristig denkender Mensch. Ich finde, dass der Tourismus zu kurzlebig ist. Touristiker schlagen oft zu schnell neue Wege ein, wenn mal etwas nicht funktioniert. Dem Gast bringt diese Einstellung nichts. Er kommt doch genau deshalb wieder, weil es ihm bei uns gefallen hat.

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Das Bedürfnis nach nachhaltigem Wirtschaften ist gross. Wie gestaltet sich der Erfahrungsaustausch mit anderen Destinationen?
Unter den 20 Parks der Schweiz besteht ein reger Austausch. Der Verband Pärke Schweiz erarbeitet Themen, die für alle wichtig sind. So kann man voneinander profitieren, und Sinnvolles kann adaptiert werden.

Wie steht es um den internationalen Erfahrungsaustausch?
Im Mai hatten wir Besuch vom EDA und der costa-ricanischen Botschaft. Costa Rica ist von der Grösse des Landes her vergleichbar mit der Schweiz, hat mehrere Nationalparks und Biosphärenreservate. Auch war eine chinesische Delegation hier, die sich in Sachen Nachhaltigkeit und Bildung stark engagiert. Sie schätzten die Vielfältigkeit vor Ort und die Naturverbundenheit der Einheimischen. Es gibt weltweit interessierte und auch sehr interessante Nachhaltigkeitsbewegungen, die sich den Austausch mit der Schweiz wünschen.

Etwas, das man dem Kulturverständnis zuliebe vermehrt kommunizieren sollte?
Wir haben ein komplett falsches Bild von Menschen in Indien, China und Amerika. Der Grossteil der Bevölkerung in diesen Ländern hat sehr wohl einen guten Bezug zur Nachhaltigkeit und zur Natur. Wir konzentrieren uns zu sehr auf die Minderheit, die Europa in fünf Tagen bereist. Dabei haben sich die touristischen Bedürfnisse in diesen Ländern auch verändert. Der Nachhaltigkeitsgedanke ist auch da präsent.

Nachhaltigkeit ist eng mit Naturschutz gekoppelt. 50 Prozent der Landschaft in der Biosphäre Entlebuch sind geschützt. Ist dies für die wirtschaftliche Entwicklung ein Vorteil oder ein Hindernis?
Mensch und Biosphäre leben im Entlebuch nicht nebeneinander, sondern miteinander. Der Mensch schützt die Natur, die Natur gibt im Gegenzug viel zurück. Wir nutzen die natürlichen Ressourcen verantwortungsvoll, um eine massvolle und nachhaltige Regionalentwicklung zu ermöglichen. Natur, Gesellschaft und Wirtschaft müssen in Einklang sein. Wir setzen zwar sehr viele Naturschutzprojekte um, sind aber keine Naturschutzorganisation. Wir sind nicht dafür da, die Region zu konservieren, wie sie ist. Wir sind ein Park, der sich weiterentwickelt, und brauchen entsprechende Freiheiten.

Wir sind nicht dazu da, die Region zu konservieren. Wir sind ein Park, der sich weiterentwickelt, und brauchen entsprechende Freiheiten.

Wohin führen diese Freiheiten die Unesco-Biosphäre Entlebuch in Zukunft?
Unsere Arbeit trägt bereits Früchte. Die Bevölkerungszahlen sind seit einigen Jahren stabil. Die regionale Wertschöpfung wächst sukzessive. Im Sortiment der Marke «Echt Entlebuch» sind heute über 500 Produkte zertifiziert. Die Weichen für eine nachhaltige Zukunft sind gestellt. Meine Vision: Wir sind ein international anerkanntes Kompetenzzentrum für nachhaltige Regionalentwicklung. Es wäre toll, wenn der Kanton Luzern uns das auch attestieren könnte.

Naturverbundene Businessfrau
Nach ihrer Kindheit und Jugendzeit auf einem Bauernhof im Kanton Schwyz absolvierte Anna Baumann ihre Grundausbildung im Bankensektor. Von 2008 bis 2022 war sie als Direktorin des Natur- und Tierparks Goldau tätig und hatte dort die Gesamtverantwortung für den Betrieb und die Führung von über 170 Angestellten. Davor war sie fünf Jahre Geschäftsleitungsmitglied des Zoos Zürich, mit den Hauptaufgaben Marketing & Education. 2021 war Baumann für den Swiss Business Woman Award nominiert. Die 57-Jährige ist Stiftungsrätin der Vogelwarte Sempach, hat bereits über 40 Länder bereist und ist leidenschaftliche Önologin. Im Januar 2023 folgte sie als Direktorin der Unesco-Biosphäre Entlebuch auf Theo Schnider.

Text: Nora Devenish Bilder: Susanne Keller