Für Janine Rüfenacht war es selbstverständlich, in der Zwischensaison ukrainischen Geflüchteten in leer stehenden Hotelzimmern einen Platz zum Leben zur Verfügung zu stellen. Die Hotelmanagerin im The Lab Hotel und Vizedirektorin der Hotelfachschule in Thun war sich aber auch stets bewusst, dass es sich dabei lediglich um eine pragmatische Übergangslösung handeln würde. «Früher oder später muss ich mich wieder voll und ganz unserem Kerngeschäft, dem Tourismus, widmen. Während der Hochsaison sind wir auf die Einnahmen aus jedem belegten Gästezimmer angewiesen», so Rüfenacht.
Der Umzug in eine Kollektivunterkunft wäre das Letzte, was ich für die Geflüchteten möchte.
Janine Rüfenacht, Managerin The Lab Hotel in Thun und Vizedirektorin Hotelfachschule Thun
Die Thuner Hotelière sucht dringend nach einer langfristigen Unterkunft im Raum Thun für die ukrainischen Geflüchteten, die im The Lab Hotel wohnen und arbeiten. Die Hotelière sieht sich auch in der moralischen Verantwortung. «Wenn wir in den kommenden Wochen keine Anschlusslösung finden, müssen sie in eine Kollektivunterkunft umziehen – das wäre das Letzte, was ich für die Geflüchteten möchte.»
930 Beherbergungsbetriebe zeigen sich solidarisch
Seit Beginn des Ukraine-Konflikts haben sich 930 nicht private Gastgeber wie Hotels, Herbergen, Pensionen oder Gruppenunterkünfte bei der Plattform Campax gemeldet. Die maximale Unterbringungskapazität belief sich kurz nach Kriegsbeginn Anfang März auf 50'070 Hotelbetten. Per 1. Juni registrierte das Staatssekretariat für Migration (SEM) 54'699 Geflüchtete. Wie viele von ihnen tatsächlich in einem Hotel untergebracht worden sind, wird laut Campax und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht zentral dokumentiert.[RELATED]
Viele Beherbergungsbetriebe haben bislang keine finanzielle Unterstützung für ihre Solidarität erhalten. Campax verweist in diesem Zusammenhang auf die Zuständigkeiten von Asylorganisationen, Gemeinden, Kantonen und vom Bund. Die Rechnung wird äusserst unterschiedlich gehandhabt. Hoteliers, die im Auftrag des SEM Geflüchtete aufnehmen, haben Anspruch auf eine Tagespauschale zwischen 70 und Fr. 87.50 pro Person, exklusive Mahlzeiten. Für Hotels, welche die Unterbringung der Flüchtenden in Zusammenarbeit mit Kantonen und Gemeinden koordinieren, gelten wiederum kantonale oder kommunale Entschädigungsregelungen.
Wie zahlreiche private Gastfamilien sind auch Hotels bei der Bewältigung bürokratischer Fragen rund um die Flüchtlingsbetreuung mehrheitlich auf sich allein gestellt. «Die täglichen Herausforderungen sind zwar zu meistern. Bei der weiterführenden Wohnungssuche wünschte ich mir aber mehr Unterstützung», sagt Janine Rüfenacht.
Flüchtende sind keine Lösung für den Fachkräftemangel
Olena und Olga Burlutska sind zwei der zehn ukrainischen Geflüchteten, die zurzeit im The Lab Hotel wohnen. In der Ukraine arbeiteten sie als Verkäuferin und als Buchhalterin. Heute sind sie mit drei weiteren Ukrainerinnen Teil des Housekeeping-Teams im Hotel. Die Arbeit gebe ihnen eine lebenswichtige Tagesstruktur und eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit.
Wie ihre Unterbringung ist aber auch ihr Arbeitsverhältnis von Unsicherheit geprägt. Die beiden Frauen wollen so bald wie möglich wieder in die Ukraine zurückkehren, um beim Wiederaufbau ihres Landes zu helfen. Für Janine Rüfenacht ist dies verständlich. Als Arbeitgeberin sieht sie sich aber aufs Neue vor Probleme gestellt: «Die Entscheidung, in die Ukraine zurückzureisen, kann über Nacht gefällt werden. Von einem Tag auf den anderen könnten uns wichtige Arbeitskräfte verloren gehen, was uns wieder zu schnellem Umdenken und Handeln zwingt.»
Aufgrund dieser Planungsunsicherheit, aber auch wegen mangelnder Ausbildung und Deutschkenntnisse sieht Janine Rüfenacht in den ukrainischen Geflüchteten keine Lösung, um dem Fachkräftemangel in der Beherbergungsbranche entgegenzuwirken: «Für diese Diskussion ist es noch zu früh. Solidarität, Geduld und Flexibilität sind weiter gefragt.»
Das Gastgewerbe ist ein wichtiger Arbeitgeber
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) meldete per 1. Juni 2022 landesweit 51 860 Ukraine-Geflüchtete mit Schutzstatus S und einer Arbeitsbewilligung. Davon waren 945 Personen oder 1,85 Prozent erwerbstätig. 22 Prozent der arbeitenden Geflüchteten waren Anfang Juni im Schweizer Gastgewerbe tätig. Damit gehört die Branche zu den wichtigsten Arbeitgebern für kriegsvertriebene Menschen aus der Ukraine.[IMG 2]