Hans-Ueli Hählen kennt den Plaine-Morte-Gletscher in- und auswendig. Seit über 20 Jahren ist er, teils allein, teils als Begleiter von Bekannten und Kollegen, auf dem grössten Plateau-Gletscher der Alpen unterwegs. Während Jahren betreute Hählen zudem als Gletscherwart die Überwachungsanlagen für die sich alljährlich bildenden Gletscherseen. «Man kann beobachten, wie die riesige Eismasse dahinschmilzt», sagt der Lenker. In einem heissen Sommer wie diesem schmelze der Gletscher jährlich bis gegen sechs Meter ab.

Plaine-Morte-Gletscher verschwindet
Laut Berechnungen der ETH Zürich ist der Plaine-Morte-Gletscher denn auch einer jener Gletscher, die in ein paar Jahrzehnten selbst dann verschwunden sein werden, wenn es gelingt, den globalen Temperaturanstieg auf nur gerade 1,5 Grad zu begrenzen. «Die Menschen sollten den Gletscher erleben, solange es ihn noch gibt», sagt Hählen.

Zwar sei eine Gletschertour nicht jedermanns Sache. So dauere etwa der Anmarsch ab Lenk zum Plaine-Morte-Gletscher drei bis vier Stunden. Und nicht alle seien bereit, ein paar Hundert Franken für einen Bergführer zu bezahlen. Hählen empfiehlt einen solchen dringend. Unter dem Schnee verborgene Gletscherspalten, Löcher und Gletschermühlen könnten zu tödlichen Fallen werden. «Man kann in einer mit Wasser gefüllten Spalte oder einem Loch leicht ertrinken.»

Eine Tour über den Gletscher mit einem Bergführer sei indessen absolut sicher. Riskant ist es laut Hählen, das Eiskanallabyrinth zu begehen, welches durch die Schmelzwasserströme entsteht. Ab November, wenn der Wasserstrom durch Frost versiegt sei, werde dies grundsätzlich möglich.

Die Menschen sollen den Gletscher erleben, solange es ihn noch gibt.
Hans-Ueli Hählen, Gletscherwart Plaine-Morte-Gletscher

In ein paar Jahrzehnten wird von den aktuell 1400 Schweizer Gletschern nicht mehr viel übrig sein. Laut einer in der Zeitschrift «Science» publizierten Studie werden bei einer Erwärmung um lediglich 1,5 Grad bis im Jahr 2100 rund zwei Drittel des Eisvolumens schmelzen. Damit werden bis zu 1200 Gletscher verschwinden.

Die Gletscher noch erleben, solange es sie noch gibt – liegt darin brachliegendes Potenzial für den Tourismus? Touristikexpertin Monika Bandi-Tanner hat Vorbehalte. Auch Valais beziehungsweise Wallis Promotion äussert sich zu einer weiteren Entwicklung des Tourismus rund um Gletscher und deren Verschwinden kritisch.

Laude-­Camille Chanton teilt auf Anfrage mit: «Es ist wichtig, die Gletscher zu schützen und zu erhalten und nicht im Vorgriff auf ihr Verschwinden einen Massentourismus zu schaffen. Als sektorübergreifendes Promotionsorgan versuchen wir, unsere Gäste für einen respektvollen Umgang mit der Natur zu sensibilisieren.» Die Werbung und Vermarktung richte man auf einen umweltfreundlichen Tourismus aus – dabei gehe es etwa um sanfte Mobilität, erneuerbare Energien, umweltfreundliche Unterkünfte.

Schönheit und Wandel thematisiert
Die Bedeutung der Gletscher ist für den Walliser Tourismus laut Chanton denn auch sehr gross. In Bezug auf Gletscher gebe es viele Angebote: Besuche von Gletscherhöhlen, geführte Wanderungen auf einem Gletscher, Skifahren im Sommer. «Die geführten Touren sind sehr beliebt, und die Gletscher sind Ziele von Wanderungen.»

Gäste können auch Staudämme besichtigen. Damit ist im Wallis auch die nachhaltige Strom­produktion ein touristisches Thema. Mehrere Walliser Organisationen bieten zudem didaktische Angebote zu den Gletschern und zum Klimawandel an. Die Angebote umfassen Lehrpfade oder im Sommer das «Pro-Natura»-Zentrum auf der Riederalp, das «World Nature Forum» in Naters oder der neu eröffnete Geologiesteg Moosfluh.

Auch in der Region Graubünden hat nach eigenen Angaben das Gletschererlebnis einen «überaus hohen touristischen Stellenwert», wie Luzi Bürkli von Graubünden Ferien auf Anfrage mitteilt. «Das Gletschererlebnis ist in der Gästeinspiration für Graubünden omnipräsent.» Auch werde der Wandel der Gletscher den Gästen auf mehrfache und vielfältige Weise nähergebracht, so etwa auf dem Gletscherweg Morteratsch, mit der interaktiven Ausstellung «Virtual Reality Glacier Experience» in Pontresina oder dem Glacier Experience Trail beim Berggasthaus Diavolezza, als Ergänzung zum Besucherzentrum an der Talstation.


Nachgefragt bei Monika Bandi Tanner

Monika Bandi Tanner, viele Gletscher in der Schweiz werden schon bald verschwinden. Ist es nicht höchste Zeit, dass der Tourismus Gletschererlebnisse jetzt noch stärker in Wert setzt?
Ich habe dazu eine geteilte Ansicht. Gletscher sind visuelle Elemente mit hoher Ausstrahlung. Es gibt die Möglichkeit, den Klimawandel sichtbar zu machen. Es sind auch einige Angebote dazu entstanden wie Gletscherwege oder Klimalehrpfade. Der Tourismus hat das Thema punktuell in die Produktgestaltung aufgenommen – dies auch, weil er selbst Mitverur­sacher des Klimawandels ist. [IMG 2]

Ein weit grösseres Angebot an Gletschertouren könnte zusätzliche Nachfrage schaffen.
Gletschertouren sehe ich weniger als Angebot für die grosse Masse, die hat man beispielsweise lieber auf der Skipiste. Ich sehe Gletschertouren eher als Nischenangebot. Im Sommer würde das sonst zu neuen Problemen führen und hätte Auswirkungen auf die Natur. Wenn das Eis zunehmend instabil wird, könnte es auch gefährlich sein, wenn Gäste in Scharen über den Gletscher geführt würden. Es ist zu diskutieren, in welcher Art die Zerstörung der Gletscher touristisch genutzt werden soll.

Sehen Sie trotzdem Möglichkeiten, wie der Tourismus Gletscherschmelze und Klimawandel noch stärker thematisieren könnte?
Ich könnte mir vorstellen, dass man neue Schönheiten, die entstehen, künftig in Wert setzt. Durch das Abschmelzen entstehen Gletscherseen, das könnten neue Attraktionen sein. Bei zunehmender Temperatur wird die Sommerfrische in den Alpen immer attraktiver. Bislang hatten wir eine Bildsprache der heilen Welt, was Erwartungshaltungen schürt. Wir sollten zu einer ehrlicheren Bildsprache finden, die näher an den neuen Realitäten ist – im Winter bleiben die Hänge zunehmend grün beziehungsweise braun mit weissen Streifen.

Wie macht man aus einem Problem ein touristisches Angebot?
Sicher sucht man in den Ferien die heile Welt. Probleme werden erst bewusst, wenn das Ferienglück bedroht ist: wenn das Abwasser des Hotels das Meer verschmutzt, sich in Tourismusorten Abfallberge türmen. Trotzdem benötigt es unbedingt Sensibilisierung, auch bei schwierigen Themen. Voraussetzung ist, dass man auch Lösungen präsentieren kann, die eine Wirkung haben. Sonst könnte der Eindruck entstehen, dass die Destination, das Hotel Greenwashing betreibt.