Werner Bernet kennt die Herausforderungen und Chancen des alpinen Tourismus. Der ehemalige Kurdirektor, langjährige Reka-Chef und Tourismusexperte blickt auf ein halbes Jahrhundert touristisches Engagement zurück. Nun verabschiedet er sich als ehrenamtlicher Experte bei der Schweizer Berghilfe. Im Gespräch spricht er über erfolgreiche Entwicklungen im Schweizer Tourismus, strukturelle Probleme, echte Bergler und warum der Begriff «Overtourismus» differenzierter betrachtet werden sollte.
Werner Bernet, mit welchen Gefühlen blicken Sie heute auf die Entwicklungen im Schweizer Tourismus?
Grundsätzlich ist der Schweizer Tourismus heute gut aufgestellt, und der Spagat zwischen wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wird erfolgreich umgesetzt. Auch Schweiz Tourismus macht einen guten Job und versucht vermehrt, die bekannten Spitzen zu brechen und die Touristenströme auch auf die Nebensaison zu lenken.
Wie stehen Sie zur aktuellen Debatte rund um den Begriff ‹Overtourismus› und dessen Auswirkungen auf die Tourismusregionen in der Schweiz?
Das Wort «Overtourismus» wird meines Erachtens fast bashing-artig verwendet. Immer sollen die Touristen schuld sein, aber Dichtestress gibt es doch in unserem Alltag an der Kasse beim Einkauf, im Zug oder auf der Strasse überall. Sicherlich gibt es gewisse Orte, wo es zu viele Touristen hat, aber dies sind Ausnahmen. Und dazu gibt es ja schon einige Erfolgsrezepte. Als Touristiker und «halber» Bergler ist für mich eindeutig, dass wir der Natur Sorge tragen müssen. Ohne intakte Alpenwelt, ohne saubere Flüsse und Seen gibt es keinen Schweizer Tourismus!
Die aktuellen positiven und wirtschaftlich erfreulichen Aspekte dürfen nicht blind machen! Der alpine Tourismus ist mit tiefgreifenden Herausforderungen konfrontiert.
Wie hat sich aus Ihrer Sicht die wirtschaftliche Situation der Berggebiete in den letzten Jahrzehnten entwickelt, und wo drückt heute der Schuh besonders?
Die wirtschaftliche Situation hat sich sicherlich verbessert, dies zeigt sich auch am Wohnungsmarkt. Die Nachfrage nach Erst- und Zweitwohnungen ist anhaltend hoch. Das Berggebiet ist heute nicht nur als Feriendestination attraktiver geworden, sondern dank Homeoffice und der Digitalisierung auch als Arbeitsort. Dieses Wachstum im Wohnungsmarkt hat jedoch zur Folge, dass es für Einheimische, aber auch für Mitarbeitende in der Hotellerie, vor allem in bekannteren Destinationen, immer schwieriger wird, eine geeignete Unterkunft zu finden. In peripheren Berggebieten, in denen die Berghilfe hauptsächlich unterstützt, ist die Wohnungsmarkt-Situation viel weniger angespannt. Für die grossen Tourismusregionen sind also Lösungen gefragt!
Woher rührt Ihr persönliches und langjähriges Engagement für die Berggebiete – beruflich und privat?
Seit 50 Jahren darf ich im und für den Tourismus arbeiten, ein riesiges aber auch spannendes Arbeitsgebiet. Was wäre der Schweizer Tourismus ohne das wunderbare Berggebiet? Als Kurdirektor von Wildhaus (Anm. d. Red. 1976-1984), meine erste Anstellung im Tourismus nach dem HSG-Studium, lernte ich das Berggebiet und dessen Bedürfnisse hautnah noch besser kennen. Bei der Reka (Anm. d. Red. 1984-2011) durfte ich mit der Schaffung von neuen Reka-Feriendörfern im Berggebiet attraktive und nachhaltige Wertschöpfung schaffen, und ab 2012 als Tourismusexperte der Berghilfe wurden primär kleinere Familienhotels, Gasthöfe sowie agrotouristische Betriebe mit Berghilfe-Geldern finanziell unterstützt. Bei allen diesen Tätigkeiten hatte ich es stets mit spannenden und mutigen Menschen zu tun, die mit Herz, mit einer Portion Risikofreudigkeit, mit «feu sacre» sich für ein Projekt oder ihren Betrieb engagierten.
Beschreiben Sie den Bergler.
Das Stereotyp von stur, verschlossen, rückwärtsgewandt, meist schlecht gelaunt stimmt überhaupt nicht! Sowohl im Wildhaus als auch bei der Reka und als Berghilfe-Experte traf ich stets Menschen mit einer positiven Grundeinstellung, meist sogar einer Aufbruchstimmung. Und wenn es mal nicht so rund läuft oder gar Naturgefahren drohen, reagiert der Bergler nicht hysterisch, sondern mit einer guten Portion Gelassenheit ganz nach dem Motto «... es liegt ja nicht in meiner Macht...».
Der Tourismus wird oft als Retter der Bergregionen dargestellt, Ihre Sicht?
Einen wesentlichen Beitrag zur erfreulichen wirtschaftlichen Lage der Berggebiete leistet der Tourismus. Der Alpenraum ist heute für viele Menschen der ideale Rückzugsort für Erholung und Sport. Ein Reka-Feriendorf mit 50 Wohnungen generiert beispielsweise rund 50'000 Logiernächte und somit eine volkswirtschaftliche lokale und regionale Wertschöpfung von über 3 Millionen Franken. Zudem durfte ich als Berghilfe-Experte rund 100 Hotelprojekte begleiten und sah dabei die interessante Beschäftigungswirkung für die Talschaft. Doch für diese positive Entwicklung braucht es mehr als den Tourismus: intakte Landschaft, eine engagierte, weitblickende Bevölkerung, gute politische Strukturen, Verkehrswege und vieles mehr.
Die aktuellen positiven und wirtschaftlich erfreulichen Aspekte dürfen nicht blind machen! Der alpine Tourismus ist mit tiefgreifenden Herausforderungen konfrontiert. Der demografische Wandel, die sich stets ändernden Kundenbedürfnisse und der Klimawandel sind nur drei Stichworte dazu. Meines Erachtens müssen sich die alpinen Destinationen in Richtung Ganzjahrestourismus bewegen, die Kleinststrukturen müssen durch noch mehr Zusammenarbeit, noch mehr Verbünde überwunden werden. Auch der Bund ist gefordert: Er kann diese Transformationsprozesse über die Regionalpolitik (NRP) und Innotour unterstützen. Als Touristiker plädiere ich dafür, dass diese Unterstützungsmassnahmen nicht den kurzfristigen Sparübungen zum Opfer fallen, sondern dass sie sogar gestärkt werden.
Gibt es ein Projekt aus Ihrer Zeit bei der Berghilfe, das Ihnen besonders ans Herz gewachsen ist und beispielhaft für nachhaltige Entwicklung steht?
Bei mir war es immer so, dass die Projekte in aktueller Bearbeitung stets einen hohen Stellenwert und eine grosse Sympathie erhalten haben. Denn bei jedem Gesuchsteller sah ich seine Begeisterung, seine innovative Idee, klar geht es auch um Businesspläne, um Geld und Finanzierungen, aber noch interessanter waren die Personen, die das Projekt aufbauen. Ein Projekt sei trotzdem erwähnt: Die Gadmerlodge am Sustenpass. Die Umnutzung des leerstehenden Schulhauses mit Turnhalle in ein modernes, familienfreundliches Hotel funktioniert bis heute sehr gut, hat mehrere neue Arbeitsstellen geschaffen und bringt wieder junge Familien und neues Leben ins Gadmertal. Dieses Projekt ist eine Super-Visitenkarte für die wertvollen Tätigkeiten der Schweizer Berghilfe.
Werden Sie dem Tourismus nach Ihrer aktiven Zeit erhalten bleiben?
Gegenwärtig bin ich noch ehrenamtlich im Stiftungsrat der Stiftung «Ferien im Baudenkmal», auch eine spannende Sache! Diese Stiftung übernimmt vom Abriss, Leerstand oder Verfall bedrohte Baudenkmäler, restauriert sie sanft und gibt ihnen durch die Vermietung eine belebte Zukunft als Ferienobjekt und viele dieser wertvollen Objekte sind im Berggebiet. Zudem werde ich mit der Berghilfe verbunden bleiben, da ich noch Mitglied im Berghilferat, dem Patronatskomitee der SBH, bin und auch für die Organisation «Bergversetzer» arbeiten werde. Diese Plattform vermittelt freiwillige Helfer an Menschen im Berggebiet, die bei Projekten Unterstützung benötigen. Ich bleibe ein Tourist vor allem in der Schweiz, denn das Gute und Schöne liegt so nah!
Was geben Sie ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern, aber auch der Tourismuspolitik abschliessend mit auf den Weg?
Eine Bergbahn oder ein Hotel allein machen nicht Tourismus! Dies habe ich mal vor rund 50 Jahren im Tourismusstudium an der HSG gelernt. Und dies gilt heute noch. Zusammenarbeit und Kooperationen sind matchentscheidend. Der Alpenraum ist für die dortige Bevölkerung Heimat, deshalb ist es wichtig, bei neuen touristischen Projekten die Bevölkerung frühzeitig einzubeziehen und dann gibt es letztendlich bessere Projekte und Angebote. Meinen Expertenkolleginnen und -kollegen bei der Berghilfe wünsche ich viele spannende Projekte, zum Wohl eines lebendigen, wirtschaftlich erfolgreichen Berggebiets.
Berghilfe und Hotellerie im Berggebiet
Die Stiftung Schweizer Berghilfe verbessert seit über 80 Jahren die Existenzgrundlagen und Lebensbedingungen der Schweizer Bergbevölkerung mit finanziellen Beiträgen an zukunftsgerichtete Investitionen. Sie wirkt so der Abwanderung entgegen.
Zudem löst die Unterstützung der Schweizer Berghilfe ein Mehrfaches an Investitionen aus, die bei lokalen, auch touristischen Kleinbetrieben weitere Wertschöpfung und Arbeitsplätze schaffen. Im vergangenen Jahr konnte die Stiftung 21 Hotels, Pensionen oder Campings mit A-fonds-perdu-Beiträgen in der Höhe von rund 2 Millionen Franken bei Investitionen in ihre Infrastruktur unterstützen.
Detaillierte Informationen zu den Bedingungen für die Einreichung eines Unterstützungsgesuchs:
berghilfe.ch